Helmholtz Perspektiven September – Oktober 2015 8 TITELTHEMA mengetragen werden die Daten im Bodensee-Ort Radolfzell. Dort ist Martin Wikelski Direktor am Max-Planck-Institut (MPI) für Ornithologie. Die Idee, Vögel mit einer Markierung wieder- erkennbar zu machen, stammt aus der Antike: Da- mals setzte man Schwalben ein, um Botschaften zu überbringen. Seit dem 13. Jahrhundert versehen Falkner ihre Tiere mit Ringen. Wissenschaftlich ist das Verfahren zum ersten Mal im Jahr 1899 genutzt worden: Damals kam der dänische Lehrer Hans Christian Cornelius Mortensen auf die Idee, mithilfe von Ringen zu erfahren, wo sich die Vögel aufhalten, wenn sie nicht in Dänemark sind – wer einen toten Vogel findet, so hoffte er, würde ihm den Fundort mitteilen. Man hoffte auch auf spek- takuläre Entdeckungen wie jene von 1822: Damals wurde in Wismar ein Storch gefunden, der einen Pfeil im Hals trug. Nur dadurch fand man heraus, dass der Storch in Ostafrika gewesen sein muss. „Bis dahin“, sagt Ommo Hüppop, „wusste man schlicht nicht, wo die Vögel, die im Winter nicht bei uns sind, diesen verbringen.“ Ommo Hüppop ist wissenschaftlicher Leiter der Inselstation Helgoland des Instituts für Vogelforschung in Wilhelmshaven, einer der drei Vogelwarten in Deutschland. Seit 1910 wird auf der kleinen Insel rund 70 Kilometer vor der Nordseeküste der Vogelzug erforscht. Eine weitere Vogelwarte wurde nach der deutschen Teilung auf Hiddensee gegründet, eine dritte ist das heutige MPI für Ornithologie in Radolfzell. „Dass Vögel auf den Klimawandel reagieren, können wir bereits über einen Zeitraum von 50 Jahren nachweisen“ Von den Vogelwarten bekommen Mitarbeiter und Ehrenamtliche die Ringe, mit denen sie die Tiere ausstatten. 800 freiwillige Beringer gibt es in Deutschland; nur mit ihrer Hilfe war es zum Beispiel möglich, auf Helgoland seit 1910 mehr als 800.000 Vögel zu markieren. Über 11.000 davon wurden woanders wiedergefunden. Die Erkennt- nisse sind zusammen mit den Daten der anderen Vogelwarten aus insgesamt rund einer Million Ringfunden in den Atlas des Vogelzugs eingeflos- sen, der 2014 erschienen ist und Einblicke in die Routen von fast 300 Arten gibt. Verblüffend sind vor allem die Strecken, die manche Zugvögel zu- rücklegen. So überwintern viele der Vögel, die auf Helgoland zwischenlanden, in Spanien, Portugal oder an der nordafrikanischen Küste. Ein Neun- TITELTHEMA8 W enn es nach Martin Wikelski geht, öffnet der Blick auf das Display des Smartpho- nes schon im nächsten Jahr eine ganz neue Welt –eine Welt, in der es von Amseln, Störchen, Flughunden und Bären nur so wimmelt. Martin Wikelski arbeitet mit einem Forscherteam an einer App, mit der Tierbeobachter auf der ganzen Welt feststellen können, welche Lebewe- sen um sie herum sind. „So wie man heute einen ‚Traffic Jam’ darstellen kann, lässt sich dann ein ‚Animal Jam’ beobachten“, erläutert Wikelski. „Je- des Tier, das einen Sender trägt, wird angezeigt.“ Per Klick können Interessenten dann erfahren, was beispielsweise der Storch, der gerade auf dem Kirchturm sein Nest baut, gestern gemacht oder wo er überwintert hat. In dem internationalen Projekt ICARUS (International Cooperation for Animal Research Using Space) sollen ab Sommer 2016 gewaltige Datenströme zusammenlaufen, auch eingespeist von Hobby-Beobachtern: Sie können eigene Fotos, Notizen oder ein Smartphone-Filmchen von einem Tier hinzufügen. „Für die Wissenschaft ist es zen- tral, Tiere da beobachten zu können, wo sie sind“, sagt Wikelski. „Was frisst der Bär in den Karpaten? Wo stoßen Vögel auf ihrem Weg nach Süden oder Norden auf Hindernisse? Wie groß ist die soziale Gruppe, in der der Storch fliegt? All das sind wich- tige Informationen, die wir wenigen Forscher nicht haben und auch nicht sammeln können.“ Zusam- Quelle: Bundesanstalt für Gewässerkunde 2006, Statistisches Bundesamt, 2013 In Formation Stare versammeln sich im Herbst für ihren Zug nach Süden in riesigen Schwärmen. Bild: Bruno D‘Amicis/Nature Picture Library/Corbis