9 Helmholtz Perspektiven März – April 2016 die bislang neues Wachstum blockiert. Wieder andere versuchen, mithilfe von Enzymen und Pro- teinen die Regeneration der Neurone anzuregen. Viele Wege, unzählige Versuche, immer wieder kleine Durchbrüche: Das Phänomen Nervenzelle wird von allen Richtungen eingekreist. Welcher Ansatz Patienten wirklich helfen wird? Wie viele Experimente ins Leere laufen werden? Das weiß bislang noch niemand – es geht um Grundlagen- forschung. Nur eines ist sicher: Es werden noch viele Wissenschaftler durchs Tal der Tränen gehen müssen. Frank Bradke reagiert gelassen-amüsiert und sehr vage, wenn man ihn fragt, wann man wohl mit einer Anwendung am Patienten rechnen könne. In Jahren? In Jahrzehnten? „Jaja, genau.“ Bradke erzählt, wie es ihn fast 20 Jahre kostete, ehe er echte, große Erfolge vorweisen konnte. „Wir versuchen, aus dem Axon eine Art verrückten Autofahrer zu machen, der sich nicht um Stopp-Zeichen kümmert“ Anfangs wollte Bradke einfach nur wissen, warum bei einer Querschnittslähmung die Axone – das sind lange Fortsätze von Nervenzellen, über die die Signale laufen – nicht mehr wachsen. Denn wird ein Axon in Hand, Fuß oder Bein durchtrennt, bildet sich an dieser Stelle ein kleiner Kegel, von dem aus das Axon weiter wächst – doch in Gehirn und Rückenmark bleibt es bei diesem Kegel, ohne dass es zum Wachstum kommt. Der Grund: sogenannte Mikrotubuli – Proteinketten, die nor- malerweise parallel angeordnet sind und durch ein koordiniertes Vorstoßen das Wachsen veranlassen. Bradke und seine Mitarbeiter am Deutschen Zentrum für Neuro- degenerative Erkrankungen in Bonn beobachte- ten, dass diese Mikrotubuli in den beschädigten Rückenmarks-Nervenzellen völlig durcheinan- dergeraten waren. Mithilfe des Krebsmedika- ments Epothilon konnte er die kleinen Röhrchen stabilisieren – und siehe da, die Nervenzellen wuchsen wieder. Seit 1998 forscht er daran. Jetzt erhielt er dafür den begehrten Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Will er seine Arbeit Laien erklären, so greift er auch schon mal auf furchtlose Autofahrer zurück: „Wir haben uns gefragt: Was ist der Motor beim Wachsen der Ner- venzellen, was die Bremse? Wir haben gesehen, dass es viele Stopp-Zeichen gibt, und selbst wenn man eines entfernt, sind immer noch viele andere da. Deshalb versuchen wir, aus dem Axon so eine Art verrückten Fahrer zu machen, der sich nicht groß um Stopp-Zeichen kümmert.“ Dabei würde es doch schon reichen, wenn die Menschen ein wenig mehr wie Fische wären: Die nämlich können ständig neue Nervenzellen produzieren, selbst nach Verletzungen am Gehirn. Wissenschaftler stehen deshalb regelmäßig vor wassergefüllten Plastikbottichen und schauen auf zwei bis drei Zentimeter kleine, schwarz-weiß gestreifte Fischlein – die Zebrafische. Auch in einem Bayreuther Keller stehen sol- che Tanks. In dem gefliesten Raum blubbert und sprudelt es wie in einem Schwimmbad, in sieben Reihen stapeln sich Aquarien übereinander. „Da, diese Fische sind genetisch so verändert, dass sie keine Pigmente bilden können“, sagt Georg Welzel, Post-Doktorand am Tierphysiologischen Institut der Universität Bayreuth. Rötlich schimmern die inneren Organe durch die Haut der kleinen, durchsichtigen Fische. So lassen sich Vorgänge im Inneren am lebendigen Tier beobach- ten. Viel wichtiger für das Studium der Nerven- zellen sind aber die kleinen Fischlarven. Will man sie produzieren, steckt man ein paar Weibchen mit ein paar Männchen in einen Behälter. Am nächsten Morgen legen die weiblichen Fische 200 bis 300 Eier ab, zwei Tage später schlüpfen Prüfender Blick Frank Bradke (links) erforscht mit seinen Kollegen die Eigenschaften von Nervenzellen. Bild: David Ausserhofer/DFG TITELTHEMA