20 FORSCHUNG langes Regal füllen. Das zeigt die neueste Schät- zung der KEK, der Koordinierungsstelle für die Er- haltung des schriftlichen Kulturguts. Die KEK hat Ende 2015 erstmals die Menge des kulturellen Er- bes benannt, das vor dem Verfall steht. Neben den Schätzen in Archiven sind zusätzlich rund neun Millionen Bände in Bibliotheken vom Papierzerfall bedroht. Unendlich viele Originale könnten damit auch für die Wissenschaft verloren gehen. Selbst in modernen Bibliotheken, die nur einen geringen Bestand an alten Werken haben, ist dieses Problem virulent. „Denken Sie etwa an die Aufzeichnungen oder Tagebücher, die Polarfor- scher auf ihren Expeditionen geschrieben haben“, sagt Marcel Brannemann, der Leiter der Bibliothek am Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) in Bremer- haven. „Das sind Unikate, die nachfolgenden Forscher-Generationen unheimlich viel erzählen können.“ Allein die Aura des Originalen könne zei- gen, wie Wissenschaftler einst gearbeitet hätten. „Die Farben von Zeichnungen oder der Zustand der Bücher haben eine ungeheure Aussagekraft“, weiß Brannemann. Würden diese Werke nicht erhalten, ginge einmaliges Kulturgut verloren. Das Archiv für deutsche Polarforschung sammelt am AWI wichtige Originale, um Wissen- schaftler und Öffentlichkeit mit historischen In- formationen über die Erkundung der Polargebiete und Meere zu versorgen. Es ist erst im Jahr 2011 entstanden, doch auch hier gibt es bereits gut 250 laufende Meter an Kulturschätzen auf Papier. „Das AWI hat das Problem zum Glück rechtzeitig er- kannt und seine Originale von Beginn an sachge- recht aufbewahrt“, sagt Christian Salewski, Leiter des Archivs. Der Nachlass des Polarforschers Alfred Wegener ist deshalb gut erhalten, genau wie Aufzeichnungen von der ersten Antarktis- Expedition, die Kapitän Carl Koldewey geleitet hat. „Ohne solche Archivalien könnten zum Beispiel Historiker überhaupt nicht arbeiten“, meint Salewski. „Nur an einem Original kann man zum Beispiel die Echtheit eines Dokuments prüfen.“ Das dürfte auch den Politikern von Bund und Ländern bewusst gewesen sein, als sie die Berliner Koordinierungsstelle 2011 eingerichtet haben. Angesiedelt an der Staatsbibliothek, sollte sie das Ausmaß des Verfalls schriftlichen Kulturguts hierzulande zahlenmäßig erfassen. Denn einen Überblick darüber, wie groß das Problem ist, gab es bislang nicht. „Die Handlungsempfehlungen sind ein Meilenstein für unsere Arbeit“, sagt Ursu- la Hartwieg, die Leiterin der Koordinierungsstelle. „Wir haben jetzt erstmals verlässliche Zahlen zu Umfang, Schädigung und Gefährdung der Bestän- de in Archiven und Bibliotheken.“ Damit war der KEK-Auftrag aber nicht erledigt. In Modellprojek- ten wurde gezeigt, was man zur Vorbeugung und Behebung solcher Schäden tun kann. Schließlich wurden allgemeine bundesweite Handlungsemp- fehlungen entwickelt. Um jährlich ein Prozent der bundesweit bedrohten Werke zu retten, seien rund 63 Millionen Euro nötig. Derzeit stünden gut zehn Millionen zur Verfügung. Die Kultusministerkon- ferenz reagierte darauf sofort: Bund, Länder und Kommunen müssten jetzt ihre Kräfte bündeln, um die wertvollen Bestände auch für künftige Genera- tionen im Original zu erhalten, hieß es. Diese Einsicht freut Ursula Hartwieg. Dabei gehe es gar nicht darum, ab sofort die 63 Millionen Euro pro Jahr zu bekommen. Das Geld könnte ohnehin nicht auf einen Schlag sachgemäß einge- setzt werden. Das Knowhow in den Bibliotheken und Archiven müsse erst einmal weiter ausgebaut werden, man brauche mehr Restaurierungs-Fach- kräfte und Werkstätten, aber auch Experten in den Einrichtungen. Die KEK hat in ihren Handlungs- empfehlungen deshalb vorgeschlagen, das Groß- projekt „Erhaltung des schriftlichen Kulturerbes“ bis zum Jahr 2025 schrittweise anzugehen. Im digitalen Zeitalter tritt für Bibliothekare auch eine neue Herausforderung auf: die Daten, die originär elektronisch entstanden sind, aufzube- wahren und zugänglich zu machen. „Datenbanken, Zeitschriften, Artikel und andere wissenschaft- liche Erhebungen etwa sind oft gar nicht mehr auf Papier entstanden, sondern von Beginn an ausschließlich digital“, sagt Frank Scholze, der Direktor der Bibliothek am Karlsruher Institut für Technologie. „Für diese Daten eine funktionale Langzeitarchivierung flächendeckend zu gewähr- leisten, ist ein bislang ungelöstes Problem.“ Die Forderungen der KEK unterstützt Scholze, auch wenn seine Bibliothek nur peripher mit Altbestän- den zu tun hat. „Wir müssen unser kulturelles Gedächtnis, unsere originalen Quellen schützen“, sagt er. „Doch gleichzeitig stehen wir vor der neuen Herausforderung, unsere heutigen digitalen Ressourcen zukunftsfähig zu machen.“ Diese Herausforderung sieht auch Marcel Brannemann vom AWI. „Was ist mit den vielen E-Mails, die sich Wissenschaftler heute schicken?“, fragt er. „Das sind doch die Briefwechsel der heu- tigen Zeit.“ Allein diesen elektronischen Nachlass künftig möglichst umfassend abbilden zu können, sei eine ungeheure Aufgabe für Archivare. Roland Koch Helmholtz Perspektiven März – April 2016 Mitunter nur feinste Risse Mit dem bloßen Auge sind viele Schäden, wie hier in der Pergament- Handschrift der Maria von Geldern, gar nicht zu sehen. Bilder: Ernst Fesseler