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Helmholtz Perspektiven 0216

13 Herr Fischer, wenn wir uns in den Finger schneiden, können wir danach trotzdem noch etwas spüren, weil die Nervenzellen nachwachsen. Nur in Gehirn und Rückenmark funktioniert das nicht. Warum? Beim Schnitt in den Finger werden Pro- teine produziert, die das Nachwachsen der Axone ermöglichen. Das funktioniert im peripheren Nervensystem, also etwa an Beinen, Armen oder dem Rumpf. Es funktioniert aber nicht, wenn Axone im zentralen Nervensystem verletzt werden, zum Beispiel im Rückenmark, Gehirn oder am Sehnerv. Und während im peri- pheren System die Regeneration von verschiedenen Zellen aktiv unterstützt wird, gibt es im zentralen Nervensystem verschiedene Moleküle, die die Regene- ration sogar aktiv hemmen. Gibt es dafür eine Erklärung? Da kann man nur spekulieren. Vielleicht hilft es, sich Tiere anzuschauen, bei denen das anders ist. Zebrafische etwa können Verletzungen an Sehnerv oder Rückenmark fast vollständig reparieren. Möglicherweise ist das so, weil bei ihnen solche Verletzungen einfach häufiger vorkommen. Wir dagegen sind recht gut geschützt: Unser Rückenmark ist von Wirbeln umschlossen, das Gehirn von Schädelknochen. Daher sind schwere Verletzungen bei uns in diesem Bereich eher selten. Meine Vermutung: Es würde evolutionstechnisch gesehen einfach kei- nen großen Vorteil darstellen, wenn wir eine hohe Regenerationsfähigkeit hätten. Aber für viele Menschen ist genau das trotzdem ein Problem. Ja, etwa nach einem schweren Unfall: Schädigungen an Rückenmark oder Ge- hirn sind dann irreparabel. Ein anderes Beispiel ist der Schlaganfall: Da kommt es zu einer Minderversorgung mit Blut und dann zu einem Absterben des Gewe- bes, wodurch ebenfalls Axone geschädigt werden. Beim Glaukom, einer relativ häu- fig auftretenden Augenkrankheit, werden Axone im Sehnerv geschädigt, was zum Absterben der gesamten Nervenzellen in der Netzhaut führt. Bei der Multiplen Sklerose werden die Myelinhüllen, welche die Axone umgeben und schützen, durch bestimmte Entzündungsprozesse geschä- digt. Diese ungeschützten Axone können ebenfalls zerstört werden. Es gibt also genug Gründe, intensiv zu forschen. Warum befinden wir uns trotzdem noch immer in der Grund- lagenforschung? Die Entwicklung von Therapien ist sehr komplex. Damit eine Nervenzelle regene- rieren kann, müssen mindestens sechs Voraussetzungen erfüllt sein: Erstens muss der Zellkörper der Nervenzelle am Leben erhalten werden, obwohl das lebenserhaltende Axon durchtrennt ist. Zweitens müssen Proteine produziert werden, damit das Axon wieder wachsen kann. Drittens: Wachstumshemmende Faktoren müssen beseitigt werden – oder Sie müssen die Signalwege innerhalb des Wachstumskegels derartig verän- dern, dass sie unempfindlich gegenüber diesen Hemmstoffen werden. Viertens: Die Axone müssen dazu gebracht werden, dass sie beim Wachsen ihr ursprüngliches Zielgebiet wiederfinden. Das nächste Problem, fünftens: Es müssen stabile Synapsen ausgebildet werden, das ist auch ein sehr komplexer Vorgang. Sechstens müssen die Axone schließ- lich wieder umhüllt, also myelinisiert werden. Erst dann wäre eine erneute Funktion möglich. Klingt herausfordernd ... Dazu kommen Probleme, wenn man im Labor getestete Verfahren auf den Menschen übertragen will. Es gibt zum Beispiel einen vielversprechen- den Ansatz, bei dem die Bildung eines bestimmten Proteins unterdrückt wird – welches allerdings in anderen Zellen die Entstehung von Krebs verhindert. Solche Behandlungen können also auch zu Tumorwachstum führen. Wenn man diesen Ansatz für den Menschen nutzbar machen will, ist noch einiges zu tun. Welche Patienten könnten am ehesten von Fortschritten profitieren? Nach einem Schlaganfall bildet die ge- sunde Seite des Gehirns oft neue Ver- knüpfungen in den geschädigten Teil aus, so kann ein Teil der verlorengegan- genen Funktion kompensiert werden. Derartige Prozesse zu unterstützen, das kann vielleicht am schnellsten umge- setzt werden. Viel schwieriger ist es beispielsweise bei einer Erblindung nach Sehnervschädigungen oder bei einer Querschnittslähmung. Ich persönlich glaube nicht, dass es in absehbarerer Zeit gelingen wird, dass ein Patient genau so wird laufen oder sehen können wie vorher. Aber wir sind ja schon sehr froh darüber, wenn nur ein Teil der ver- lorengegangenen Funktionen wieder- hergestellt werden kann – etwa, um den Rollstuhl bedienen zu können.  Interview: Marike Frick Dietmar Fischer ist Professor für Experimentelle Neurologie und forscht an der Heinrich-Heine- Universität Düsseldorf vor allem zur Regeneration des Sehnervs. Er hat unter anderem mithilfe des Krebsmedikaments Taxol Nervenzellen zum Nachwachsen gebracht. Bild: HHU Düsseldorf Helmholtz Perspektiven März – April 2016 TITELTHEMA

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