Helmholtz Perspektiven März – April 2015 8 TITELTHEMA P estbakterien in New Yorker U-Bahnen, resistente Superkeime in deutschen Unikliniken, Tuberkuloseerreger auf dem Vormarsch: Das sind nur einige Schreckensnachrichten, die wir fast täglich lesen. Und nicht nur Infektionen und Seuchen sind das Werk der Kleinstlebewesen: Auch bei Diabetes, Herzkrankheiten, Krebs, Über- gewicht, Autismus und Depressionen mischen sie mit. Bakterien, so der naheliegende Schluss, sind gefährlich, eklig und überflüssig – also weg damit. Eine putzige Idee. Die wahren Machtverhält- nisse verkennt sie allerdings. Denn beherrscht wird unser Planet nicht etwa vom Menschen, sondern letztlich wohl von den winzig kleinen Lebewesen. Ohne Mikroskop bleiben sie dem menschlichen Auge verborgen, zehntausend von ihnen sind gerade einmal so groß wie ein Stecknadelkopf. Die Bak- terien waren schon lange vor uns auf der Welt, sie schufen die sauerstoffhaltige Atmosphäre, ohne die wir nicht existieren könnten, und bis heute sind sie die Grundlage allen Lebens. Ihre Anzahl ist gewaltig, wie das Beispiel Mensch zeigt: Sein Körper besteht aus etwa zehn Billionen Zellen, aber auf und in ihm tummeln sich noch zehn Mal so viele Bakterien. Allein die Darmbakterien bringen annähernd zwei Kilogramm auf die Waage, das ist mehr als ein menschliches Gehirn wiegt. Näher erforscht sind nur wenige Tausend Spezies. Bis zu 99 Prozent aller Bakterienarten, so schätzen Fachleute, sind noch nicht beschrieben. Derzeit erlebt die Bakterienforschung einen nie dagewesenen Boom. „Vor fünf Jahren konnte ich die Literatur auf meinem Gebiet noch gut verfolgen“, sagt Till Strowig, der Leiter der Nachwuchsgruppe Mikrobielle Immunregulation am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung. Inzwischen jedoch sei die Zahl der Neuveröffentli- chungen kaum mehr zu überblicken, berichtet der Braunschweiger Forscher. Möglich wird der rasante Erkenntniszuwachs durch moderne Hochdurchsatz- Sequenzierverfahren. Mit ihnen lässt sich nicht nur das Erbgut bislang unbekannter Mikroorganismen schnell und kostengünstig entziffern, sie liefern auch einen Einblick in die Funktionsweise großer Mikrobengemeinschaften. Schrittmacher des Fortschritts sind spekta- kuläre Großprojekte wie das Humane Mikrobiom- projekt (HMP), das die Besiedlung des Menschen mit Mikroorganismen untersucht. Es begann im Jahr 2008 und schon die ersten Ergebnisse – sie erschienen 2012 in renommierten Wissenschafts- magazinen wie Nature – machten weltweit Schlag- zeilen. Auf und im Körper des Menschen leben dem- nach mehr als 10.000 verschiedene Bakterienarten, allein in einem Gramm Darminhalt wimmeln bis zu eine Billion Kleinstlebewesen. In den einzelnen Organen fanden die HMP-Forscher ganz unter- schiedliche Mikrobengemeinschaften – mit enormer Artenvielfalt im Darm und auf den Zähnen und einer auffallend geringen Diversität in der Vagina. Mensch und Mikrobe sind derart eng miteinander verwoben, dass manche von einem Superorganismus sprechen Zusammen besitzen alle Bakterien des Menschen etwa acht Millionen Gene – der Mensch selbst verfügt nur über 22.000 solcher Erbanlagen. Nun wird untersucht, wie sich das Mikrobiom eines Menschen – also alle in und auf ihm lebenden Mik- roorganismen – im Lauf des Lebens verändert und welche Rolle es fürs Gesundbleiben und Krankwer- den spielt. Ohne Bakterien, das belegt die Forschung im- mer wieder eindrucksvoll, könnte der Körper nicht funktionieren. Sie versorgen ihn mit Nährstoffen und Vitaminen, entsorgen den Rest und schüt- zen ihren Gastgeber vor allerlei Krankheiten. Ihre nützlichen Dienste versehen die Winzlinge sogar in Organen wie der Lunge, die früher als steril galt. Überraschend ist auch die Anhänglichkeit der klei- nen Lebewesen: So bleibt das Muster der Darmbe- siedlung über viele Jahre erstaunlich stabil, wie eine im Fachblatt Science erschienene Studie zeigte. Mensch und Mikrobe scheinen derart eng mit- einander verwoben zu sein, dass manche schon von einem Superorganismus sprechen. Wer bin ich und, wenn ja, wie viele, fragte flapsig ein philosophischer 1677 beschrieb der Niederländer Antoni van Leeuwenhoek erst- mals von ihm mikroskopisch beobachtete Bakterien. 1876 entdeckte Robert Koch den Milzbranderreger Bacillus anthra- cis, 1882 den Schwindsuchtkeim Mycobacterium tuberculosis. 1928 begann Alexander Fleming mit der Entwicklung des keimtö- tenden Antibiotikums Penicillin. 1983 fanden die Australier Barry Marshall und John Robin Warren heraus, dass Helicobacter pylori Magengeschwüre verursacht. H I STO R I S C H E S TITELTHEMA8