S o groß wie 15 Fußballplätze nebeneinan- der ist das Feld in Ungarn, auf dem die gefürchteten Pflanzen dicht an dicht wach- sen. Mit nackten Armen oder Beinen wird ihnen niemand zu nahe kommen. Denn die Bauern kultivieren hier eine Pflanze, die als Unkraut mit bösen Nebenwirkungen verschrien ist: die Brenn- nessel. Auf dem zehn Hektar großen Gelände soll sie jedoch niemandem wehtun. Sie ist Teil eines spektakulären Experiments: Forscher wollen Fa- sern aus den Brennnesseln gewinnen und daraus Textilien fertigen. Denn die Nesseln könnten auf lange Sicht eine umweltfreundliche Alternative zur Baumwolle werden. „Man muss die Brennnessel im Zusammen- hang mit den heimischen Bastpflanzen Hanf und Flachs sehen“, sagt Faserexperte Kai Nebel von der Hochschule Reutlingen. Denn tatsächlich wird die Brennnessel seit dem Mittelalter als Alternative zu Hanf und Leinen geschätzt: Schon damals fertigten die Menschen Taue, Segel und sogar Kleidung auf der Basis von Brennnesseln. Dazu verwendeten sie die Fasern der Stängel – ein Teil der Pflanze, der bei Berührung nicht brennt. Seit Generationen arbeiten Züchter nun daran, den Fasergehalt der wild wachsenden Nesseln zu erhöhen, um die Produktion lohnender zu machen. Der Knackpunkt bei der Textilherstellung war bislang das Verfahren, mit dem die Faser vom Holzkern des Stängels getrennt wurde – jenes Verfahren, das nötig ist, um überhaupt ein ver- wertbares Material zu gewinnen. Wenn Ingenieur Kai Nebel die Technik beschreibt, wird deutlich, warum sie so aufwendig ist. Feldröste nennen Experten die althergebrachte landwirtschaftliche Methode, bei der die Pflanzenstängel auf einem Feld ausgebreitet werden. Im Rottungsprozess ent- stehen Bakterien, die die Pektine auflösen; das ist die Substanz, die als natürlicher Leim die Fasern mit dem Holz verbindet. Die Feldröste hat einige Nachteile: Sie dauert mehrere Wochen – und wenn es in der Zeit besonders stark regnet, kann das die gesamte Ernte zerstören. Im Anschluss an die ri- sikoreiche Feldröste wurden früher die Bastfasern mechanisch von Holzteilen gereinigt. Um feine, baumwollähnliche Garne spinnen zu können, war zusätzlich ein chemischer Prozess notwendig, mit dem die Einzelfasern aus dem Bastverbund freigelegt wurden. Wegen dieses Aufwands seien der Preis für die weichen Fasern zu hoch und die Hektarerträge zu niedrig gewesen, um die Brenn- nessel als konkurrenzfähiges Ausgangsprodukt für die Textilindustrie zu etablieren, sagt Kai Nebel. Hier setzt die Arbeit von Carolin Schneider an. Sie leitet das Institut für Pflanzenkultur im nieder- sächsischen Schnega und forscht mit Partnern im Auftrag der Fachagentur für Nachwachsende Rohstoffe sowie der Deutschen Bundesstiftung Umwelt. Mit ihren Kollegen untersucht sie die Fasern – und schneidet von besonders geeigneten Mutterpflanzen Stecklinge, die sie auspflanzt. Dadurch konnten sie den Fasergehalt der Nesseln bereits von 15 auf 20 Prozent steigern. Diese spezielle Züchtung ist es, die auf dem zehn Hektar großen Feld in Ungarn angebaut wird. Hinter dem Großversuch steckt der Textilhersteller Mattes und Ammann aus dem schwäbischen Meß- stetten. Die Firma hat gemeinsam mit externen Partnern ein technisches Verfahren entwickelt, das die Feldröste ersetzen soll – wie genau das funktio- niert, will man allerdings noch nicht verraten, da die Methode derzeit patentiert werde. Optimistisch ist man aber auf jeden Fall: Noch im laufenden Jahr sollen erste Muster produziert werden. Verkaufsdirektor Werner Moser sieht eine Chance, mit den Nesselfasern das Produktspek- trum aus Baumwolle zu ergänzen. Derzeit allerdings sei das noch zu teuer: Nesselfasern aus dem Himalaya kosten pro laufendem Meter 45 Euro, Baumwollprodukte liegen bei etwa fünf Euro. Und vor allem müsste man noch Bauern davon überzeugen, im großen Stil Brennnesseln anzu- pflanzen: Allein die Firma Mattes und Ammann verarbeitet pro Jahr 500 bis 1000 Tonnen Baum- wolle – sollte diese Menge durch Brennnesseln ersetzt werden, brauche man dafür etwa 8000 Hektar Anbaufläche. Wenn das neue technische Verfahren zur Fasergewinnung ein Erfolg wird, könnte davon die Umwelt kräftig profitieren, denn die Baumwollproduktion schluckt gewaltige Mengen an Wasser. Bis zu 20.000 Liter sind es allein für die Wolle, aus der ein einziges T-Shirt entsteht. Die Brennnessel hingegen ist deutlich genügsamer – sie kommt mit dem natür- lichen Niederschlag aus. Thomas Isenburg 29ForScHung Helmholtz Perspektiven November – Dezember 2015