Helmholtz Perspektiven Mai – Juni 2015 31Forschung bluteten, wenn sie das Mittel nahmen. Das wurde zunächst als unerwünschte Nebenwirkung ver- merkt. Doch schon bald kam der Hersteller Bayer auf eine Idee und beantragte eine weitere Zulassung für Aspirin – zur Behandlung von Gerinnungsstö- rungen. Seitdem dient Acetylsalicylsäure auch der Vorbeugung gegen einen Herzinfarkt oder Schlagan- fall, die oft die Folge eines Blutgerinnsels sind. Den Wirkstoff, der inzwischen auch von anderen Herstel- lern verarbeitet wird, nehmen Millionen gefährdeter Menschen ein. „Wird für ein bewährtes Medikament eine neue Anwendung entdeckt, kann es zügig zugelassen werden“ Ähnliche Durchbrüche gab es im Laufe der vergan- genen 100 Jahre immer wieder. Für die Pharmaun- ternehmen ist ein neues Anwendungsgebiet für ein vorhandenes Medikament praktisch. „Die Arznei- mittelentwicklung dauert normalerweise zehn, zwölf Jahre. Ein Großteil dieses millionenschweren Auf- wands lässt sich sparen, wenn die Medikamente für eine andere Anwendung bereits zugelassen sind“, sagt Rolf Müller, Direktor des Helmholtz-Instituts für Pharmazeutische Forschung Saarland (HIPS). So sei beispielsweise die allgemeine Verträglichkeit und die sogenannte Toxizität schon für die erste Anwendung untersucht worden, manchmal müssten allenfalls noch kleinere Studien mit anderen Do- sierungen durchgeführt werden. Das spart erhebli- che Kosten. Aber auch die Patienten haben einen Vorteil: Wird für ein bewährtes Medikament eine neue Anwendung entdeckt, kann es zügig zugelas- sen werden. So profitieren Patienten schon bald von dessen vermeintlicher Nebenwirkung. Über lange Zeit war es reiner Zufall, wenn For- scher neue Anwendungen für bewährte Medikamen- te entdeckten. Viagra ist das vielleicht amüsanteste Beispiel: Studien in den 1990er Jahren sollten die Wirksamkeit von Sildenafil bei Durchblutungsstö- rungen im Herzen belegen. Als die Probanden sich weigerten, die überzähligen Tabletten zurückzuge- ben, schöpften die Ärzte Verdacht. Schließlich er- fuhren sie von einer verlängerten und verbesserten Erektion der überwiegend älteren Patienten; Pfizer brachte Sildenafil unter dem Markennamen Viagra auf den Markt. 2006 wurde das Mittel schließlich auch gegen Lungenhochdruck zugelassen. Inzwischen durchforsten Wissenschaftler be- reits zugelassene Medikamente gezielt nach neuen Anwendungen. Möglich machen das neuartige mo- lekularbiologische und biomedizinische Methoden. „Wenn heute beispielsweise ein Zellrezeptor iden- tifiziert wird, der bei einer bestimmten Erkrankung womöglich ein Ansatzpunkt für eine Therapie sein könnte, dann werden in den sogenannten Assays – den Testläufen, wo man die Interaktion zwischen den Molekülen prüft – erst einmal die zugelassenen Wirkstoffe ausprobiert“, sagt Müller. Auch neue wissenschaftliche Veröffentli- chungen werden systematisch nach möglichen Ansatzstellen durchsucht. Die Pharmaunternehmen kennen den molekularen Aufbau ihrer Wirkstoffe normalerweise im Detail – und wenn nun eine neue Studie nahelegt, dass es dabei einen Zusammen- hang mit einer anderen Krankheit geben könnte, lässt sich rasch prüfen, ob das Medikament der Firma womöglich genau an diesem Punkt angreift. Der Pharmakonzern Bayer unterhält sogar eine ganze Abteilung, die nach neuen Anwendungs- möglichkeiten der Medikamente sucht. Fast 30 Mitarbeiter sind damit beschäftigt, sie forschen in eigenen Laboren und kooperieren mit Universitäten und anderen Firmen. Sie sammeln Informationen aus eigenen und externen Forschungsberichten, be- suchen Kongresse und tauschen sich mit Experten aus – und sie lassen Computerprogramme Daten- banken für sie durchforsten. Dabei konzentriert man sich nicht nur auf die Wirkstoffe, die bereits zugelas- sen sind, sondern auch auf jene, die noch in der Entwicklung sind. „Wenn einer unserer potenziellen Wirkstoffe ungewöhnliche Wirkungen zeigt, ist das für uns ein interessanter Hinweis auf ein mögliches neues Anwendungsgebiet“, sagt Ulrich Nielsch, der Leiter der Abteilung bei Bayer. So wandeln sich die einstigen unerwünschten Nebenwirkungen in neue Chancen. Ähnliche Ansätze verfolgen zahlreiche öffent- liche und private Forschungsinstitute weltweit. Meist wählen sie sogar einen breiteren Ansatz und beschränken sich nicht auf bestimmte Wirkstof- fe. „Nach neuen Anwendungen für zugelassene Wirkstoffe zu suchen, lohnt sich im Grunde für alle, gerade dann, wenn der Patentschutz abgelaufen ist“, sagt Rolf Müller vom HIPS. Wie viele wertvolle Nebenwirkungen noch in den vorhandenen Medika- menten schlummern, lässt sich bislang nur schwer abschätzen. Die eine oder andere positive Überra- schung steht aber bestimmt noch bevor. Christian Heinrich Weitere Beispiele auf den Folgeseiten