Helmholtz Perspektiven März – April 2014 26 FORSCHUNG Die Besorgung von Reagenzien oder Pipetten wird durch die Allmacht der Buchhalter schnell zum plan- wirtschaftlich anmutenden Irrlauf. Der Austausch wissenschaftlichen Materials über die Landesgren- zen hinweg scheitert oft an Zoll oder Geheimdienst. Da sind die Arbeitsbedingungen in Westeuropa oder den USA besser. Konstantin Sewerinow kennt diese Probleme, denn er führt zugleich Akademie-Labore in Moskau und ein Labor in New Jersey. Der Molekularbiologe gehört zu denen, die Russlands Wissenschafts- betrieb etwas durchlüften möchten. Er verbindet Sieht Modernisierungsbedarf Molekularbiologe Konstantin Sewerinow. Bild: Alexey Payevsky Die Russische Akademie der Wissenschaften wurde nach westli- chem Vorbild 1724 unter Zar Peter dem Großen gegründet. Zu den ersten Akademiemitgliedern zählten Wissenschaftler aus Deutsch- land, Frankreich und der Schweiz. Die Akademie nahm Sitz in Sankt Petersburg und wurde erst 1934 nach Moskau verlegt. Sie ist seit ihrer Gründung eng mit der politischen Klasse Russlands verknüpft. Heute ist die Akademie die bedeutendste außeruniver- sitäre Forschungseinrichtung Russlands. Ihre Wissenschaftsorga- nisationen und Institute widmen sich der Grundlagenforschung im Bereich der Natur- und Gesellschaftswissenschaften. Im Rahmen der Reform kamen im Oktober durch die Fusion mit früher eigen- ständigen Akademien die Medizinwissenschaften und die Agrar- wissenschaften hinzu. Die Helmholtz-Gemeinschaft kooperiert mit einigen Instituten der Akademie und sieht in der Reform auch eine Chance: „Der Rückzug von der Finanzierung nach dem Gießkan- nenprinzip bedeutet, dass künftig die Besten gefördert werden“, sagt Elena Eremenko, die das Moskauer Helmholtz-Büro leitet. „Die Einrichtung neuer Förderinstrumente wie des Russischen Wissenschaftsfonds eröffnet auch uns neue Perspektiven.“ Die Akademie zählt heute 481 feste und 732 korrespondie- rende Mitglieder – Forscher, die sich besonders verdient gemacht haben. Sie besitzt etwa 550 Unterorganisationen und Forschungs- institute mit mehr als 55.000 Mitarbeitern. 2013 wurde sie aus dem russischen Staatshaushalt mit gut anderthalb Milliarden Euro finanziert. Bisher verwaltete sie insgesamt 337.000 Hektar Land und 15 Millionen Quadratmeter Immobilien. Das Präsidium der Akademie residiert in einem der Wahrzeichen Moskaus, dem 22 Stockwerke hohen Gebäude am Leninprospekt, das „Goldenes Hirn“ getauft wurde. DAS GOLDENE GEHIRN Internationalität und Wettbewerbsdenken mit Unverkrampftheit in Jeans und T-Shirt. Das muss vielen Akademiemitgliedern ein Graus sein. Nach- dem sich Sewerinow für Reformen aussprach, kam der Vorwurf auf, er sei ein Agent der USA. „Manche der Reaktionen auf die Reform waren geradezu hys- terisch“, sagt Sewerinow. Aber nach fünf Reform- monaten klingt sogar er ernüchtert: „Die schlimms- ten Vorhersagen sind nicht eingetroffen“, urteilt er, „aber es ist auch nichts Gutes entstanden.“ In den Expertengruppen des Russischen Wissenschaftsfonds, der die Projektgelder vergeben soll, hat Sewerinow viele allzu bekannte Namen entdeckt. „Der Eindruck, dass sich alles verändert, fehlt noch“, sagt er. Arbeitsgruppen, die Kriterien für ein Audit aller Akademie-Institute erstellen sollen, sind in Konflikten verfangen: So besteht innerhalb der Arbeitsgruppen nicht einmal Einigkeit darüber, ob für die biomedizinischen Institute der Zitierindex in wissenschaftlichen Fachpublikationen als Maßstab für wissenschaftlichen Erfolg gelten soll. Wer später die Arbeit der Institute begutachten wird, ist so offen wie die Frage, in welchem Maß die Nationale Agentur ihre Verwaltungsarbeit tatsäch- lich der Wissenschaft unterordnet. Wie es in dem Streit nun weitergeht, ist noch nicht absehbar. Denn obwohl die Reform schon beschlossen ist, könnte es den protestierenden Wissenschaftlern durchaus noch gelingen, die Änderungen auszubremsen. Johannes Voswinkel