Helmholtz Perspektiven März – April 2014 22 STANDPUNK TE V or einer Weile musste mein Vater operiert werden. Nach der OP nahm er inner- halb von fünf Tagen 13 Kilogramm zu. Ursache dafür waren die Infusionen, die er bekam, und eine seit langem bestehende Herz- insuffizienz, die auch in der Voruntersuchung gut dokumentiert war. Jetzt das Unglaubliche: Keiner hat die extreme Gewichtszunahme bemerkt. Zwar kontrollierte das Pflegepersonal jeden Tag das Ge- wicht meines Vaters und trug es ins Stationsbuch ein – doch niemand verglich die handschriftlichen Daten miteinander. In Skandinavien wäre diese Verkettung un- glücklicher Unaufmerksamkeiten vermutlich nicht passiert. Dort gibt es so genannte elektronische Patientenakten, eine digitale Datenbank, die die gesamte Krankengeschichte eines Patienten spei- chert – alle Diagnosen, Behandlungsdaten, Medika- mente, Allergien, Röntgenbilder, EKG-Verläufe, und zwar landesweit und institutionenübergreifend. Bei meinem Vater hätte die elektronische Patientenakte Alarm ausgelöst – und meinem Vater die zusätzli- chen Beschwerden, dem Gesundheitssystem die teure Nachbehandlung erspart. Deutschlands Wissenschaftler jedoch können, mittlerweile seit über 20 Jahren, nur von der Ein- führung der elektronischen Patientenakte träumen. Hierzulande führen Krankenhäuser und Arztpraxen im Wesentlichen Datenbanken, die die Stammda- ten wie Adresse, Krankenversicherung und Kosten enthalten. Medizinische Patientendaten werden selbst heute noch auf Papier von Taxis zwischen den einzelnen Häusern großer Kliniken hin- und hertransportiert. Abgesehen vom offensichtlichen Nutzen für den Einzelnen zeigen Vergleichsstatistiken zudem: Die Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Behandlung hängt von der ärztlichen Meinung ab, die oft auch von der Vergütung der jeweiligen Therapie beeinflusst wird. Wären alle Diagnosen, therapeutischen Maßnahmen und deren Kosten elektronisch verfügbar, so könnte man statisti- sche Forschung betreiben und über einen großen Bevölkerungsschnitt hinweg die besten Therapien für eine Erkrankung und einen bestimmten Perso- nenkreis ermitteln. Skandinavien ist uns auch auf diesem Feld weit voraus. Die dortigen Gesundheits- systeme sind in Relation zum Bruttoinlandsprodukt um etwa 20 Prozent billiger, dafür aber effektiver: Ab dem 65. Lebensjahr genießen schwedische Rentner im Schnitt noch 14 gesunde Jahre, wir Deutschen dagegen nur sieben. Die Ursachen liegen nicht allein in der elek- tronischen Verfügbarkeit von Daten. Damit aber könnten geeignete Anreizsysteme für Gesundheits- dienstleister und Patienten entwickelt werden, die für das viele Geld auch adäquate Resultate sicher- stellen würden. Es kann nicht sein, dass Patientenakten mitunter noch in Taxis hin- und hertransportiert werden, sagt Wilhelm Stork, Leiter des Bereichs Mikrosystemtechnik am Karlsruher Institut für Technologie Brauchen wir die elektronische Patientenakte? Zwei Blickwinkel: Wilhelm Stork und Sebastian Semler