23 „Wir müssen die Menschen ehrlicher über den Nutzen und den Schaden von Früherkennungstests informieren“, sagt Gerd Gigerenzer, Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und des Harding-Zentrums für Risikokompetenz E in großes Problem bei der Früherkennung von Krankheiten ist die Illusion der Gewiss- heit. Viele Menschen glauben, dass sie bei einem positiven Testergebnis auf jeden Fall erkrankt sind. Doch das muss nicht zwangsläufig der Fall sein: Beim Mammographie-Screening etwa sind die meisten verdächtigen Testergebnisse falscher Alarm. Um unnötige Ängste zu vermeiden, sollte man den Patienten vor dem Test erklären, was die Ergebnisse tatsächlich bedeuten – nämlich eine erhöhte Wahrscheinlichkeit erkrankt zu sein. Auch über den Nutzen der Früherkennung ist die Öffentlichkeit nicht gut informiert. Lange war das erste Ziel der Informationspolitik die Teil- nehmerraten zu erhöhen, nicht aber die Patien- ten aufzuklären. Das hat zu Fehlentwicklungen geführt: Zum Beispiel raten die internationalen Gesundheitsorganisationen von der Prostatakrebs- früherkennung mit Hilfe von PSA-Tests ab, bei denen auf ein prostataspezifisches Antigen im Blut untersucht wird. Dennoch gibt es Ärzte, die den Test empfehlen. Die Angst der Menschen wird mitunter zu einem Geschäft, was verheerende Folgen haben kann. In einer US-Studie wurden Eltern, bei deren Kindern es bei einem Neugeborenen-Screening einen falschen Alarm gab, mit Eltern von Kindern mit normalen Ergebnissen verglichen. Selbst nach- dem lange klar war, dass das Testergebnis falsch war, machten sich die Eltern von Falschalarm- Kindern mehr Sorgen um ihre Kinder und hatten häufiger eine gestörte Beziehung zu ihnen. Dieses überängstliche Verhalten führte bei rund der Hälfte der Kinder zu Verhaltensstörungen. Ein weiteres Beispiel ist das massenhafte Screening auf Schilddrüsenkrebs in Süd-Korea. Dies führte dazu, dass bei immer mehr Menschen eine vermeintliche Schilddrüsenkrebs-Erkrankung diagnostiziert und behandelt wurde. Faktisch jedoch wurden auch nicht-bedeutsame Verände- rungen der Schilddrüse fälschlicherweise als lebensgefährlicher Krebs identifiziert und unnötig behandelt. Fatal ist, dass diese Menschen an den Folgen der Behandlung über Jahre leiden müssen. Schließlich können auch viele Mediziner die Testergebnisse nur bedingt richtig deuten. Wir entwickeln am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung „Faktenboxen“ zur Früh- erkennung, die verständlich den Nutzen und Schaden vermitteln. Das ermöglicht informierte Entscheidungen. Die Fähigkeit, Wahrscheinlich- keiten richtig zu inter-pretieren, muss aus meiner Sicht außerdem viel stärker in die Ausbildung der Ärzte einfließen. Helmholtz Perspektiven September – Oktober 2016 standpunkte Diskutieren Sie zum Thema unter: www.helmholtz.de/ blickwinkel