Helmholtz Perspektiven Juli – August 2014 8 Titelthema Wie genau speichert das Gehirn denn nun Informationen? Singer Seit etwa einer Dekade weiß man, dass die fest miteinander verbun denen Neuronen immer wieder neue funktionelle Netzwerke bilden, indem sie mal mit dem einen Nachbarn sprechen und mal mit dem anderen – je nachdem, auf welchen Reiz das Gehirn gerade reagiert. Die Verbindungen zwischen den Nervenzellen arbeiten also mal mehr, mal weniger, abhängig davon, welche Netzwerke gerade gebraucht werden. In diesen neuronalen Netzen überlagern sich Erinnerungsspuren, die nach assoziativen Regeln abrufbar sind – egal, ob es sich um ein Ereignis aus der frühen Kindheit oder von gestern Abend handelt. Computer müssen gespeicherte Inhalte dagegen der Reihe nach suchen. Prozesse im Gehirn laufen hoch parallel ab und weisen eine extrem komplexe Dynamik auf. Diese zu verstehen macht immer noch große Probleme. Zum Teil fehlt sogar die Mathematik dafür. Das Gehirn erzeugt hochdimensionale Zustände und führt in diesen seine Rechenoperationen aus. Da hat die Evolution eine Verarbeitungs strategie verwirklicht, die wir noch nicht verstehen. Sobald wir mehr wissen, könnten wir beginnen, die Funktions prinzipien der Großhirnrinde zu simulieren. Angenommen, Sie hätten genügend Speicher, um ein Gehirn zu simulieren – würde der Rechner genauso schnell arbeiten können wie das Gehirn? Lippert In naher Zukunft wahrscheinlich nicht. Die Arbeitsgeschwindigkeit des Gehirns lässt sich nicht mit den elektroni- schen Rechengeschwindigkeiten errei- chen, die wir in den nächsten Jahren zur Verfügung haben werden. Singer Ein großes Problem wird sein, diese komplexen Systeme stabil zu be- kommen. Im Gehirn wimmelt es von posi- tiven Rückkopplungsschleifen: A spricht erregend mit B und B wieder erregend mit A. Dadurch entsteht eine Dynamik, die Sie analytisch nicht beschreiben und damit auch nicht ingenieurmäßig beherrschen können. Die Natur hat offen- bar einen riesigen Aufwand betrieben, diese Rückkopplungsschleifen mit einer Hierarchie von Überwachungssystemen zu dämpfen: Sie sorgen dafür, dass das System einerseits nicht ständig über- reagiert und andererseits nicht ständig unter die kritische Erregungsschwelle fällt, wo es dann komatös wird. Diese Stabilitätsprobleme zu lösen ist eine ingenieurtechnische Herausforderung, die sich vermutlich nur über Selbstorga nisationsprinzipien lösen lässt. Lippert Für die Dynamik der Neurone versucht man, einfache Regeln zu finden. Diese Regeln müssen auf riesige Daten mengen angewandt werden, die fast 100 Milliarden Neurone und jeweils bis zu 10.000 Synapsen repräsentieren. In der Simulation erfolgt die wiederholte Anwendung dieser Regeln auf die ganze Struktur, was bestimmt, wie die Neuro- nen miteinander wechselwirken, wie sich neue Verbindungen bilden und so weiter. Das erfordert, Rechnungen von großer logischer Tiefe durchzuführen, und im Fall des Gehirns braucht das gigantische Rechenleistungen. Der Prozess wird zu sehr komplexen Phänomenen führen, die aber einfachen Regeln folgen. Singer Und die Dynamik bekommt man nicht mitgeliefert. Dahinter steckt eine ganz lange evolutionäre Geschichte. Selbst wenn Sie das Gehirn auseinander- nehmen und die vollständige Verschaltung aller Neuronen hätten, würde Ihnen das noch nicht sagen, zu welcher Dynamik die Wechselwirkungen führen. Lippert Wie es wirklich funktioniert, können wir nicht mal bei einem simplen Nervenzellnetz sagen. Das ist wie eine Blackbox. Da gibt es Überlagerungszu- stände, die aussehen, als hätten wir es mit Quantenmechanik zu tun. Aber das ist natürlich nicht das gleiche. Singer Stimmt, das ist ein anderes Prinzip. Die Evolution hat sich da etwas Ungewöhnliches einfallen lassen. Lippert Und dieses Prinzip haben wir noch nicht verstanden. Schneiden Sie mal einen Intel-Prozessorchip durch und schauen Sie sich die Struktur an, was Sie dann an Erkenntnis erlangen. Singer Sehr wenig. Lippert Null. Das System ist zu komplex, als dass wir auf einfache Weise entwirren könnten, was darin passiert. Dem Gehirn klar unterlegen Jülichs Superrechner JUQUEEN ist noch viel zu klein, um das Gehirn zu simulieren. Bild: Ralf-Uwe Limbach, Forschungszentrum Jülich