Helmholtz Perspektiven Juli – August 2014 25Forschung Kerstin Hürkamp vor dem Gipfel- kreuz der Zugspitze. Bild: A. Unger Hinweisschild, und das ist nicht der einzige Super- lativ hier oben: Schließlich beherbergt die Zugspitze auch Deutschlands höchstgelegenen Biergarten, Deutschlands höchstgelegene Kapelle, Deutsch- lands größten Gletscher. Und „den schönsten Arbeitsplatz Deutschlands“, wie Kerstin Hürkamp findet, wenn sie von der Aussichtsplattform aus nach unten schaut. „Wie Urlaub“ sei das, hat sie ihrem Chef mal gesagt, „aber das mochte der gar nicht so gerne hören.“ Das Wort „zeitlos“ fällt einem ein beim Blick aufs Wettersteingebirge, aber es ist hier oben voll- kommen fehl am Platz. Denn vielleicht nirgendwo sonst in Deutschland hinterlässt die Zeit so tiefe Spuren. Da liegt der Südliche Schneeferner: ein ehemaliger Gletscher, der längst sein Nährgebiet verloren hat, ein „Toteis“. Daneben der Nördliche Schneeferner, der bis vor zwei Jahren mit reflektie- renden Folien bedeckt wurde, um sein Abschmel- zen zu verlangsamen. Auch damit ist jetzt Schluss; in 30 Jahren wird er vermutlich ganz verschwun- den sein. Ein paar Schneeraupen betreiben gerade „Snow Farming“, sie schieben Schnee auf engen Raum zusammen, um dessen Abschmelzen zu ver- langsamen und ihn im Winter, wenn die Skifahrer anrücken, wieder ausbringen zu können. Irgendwie passend, dass sich die promovierte Geologin Kerstin Hürkamp und der Physikprofessor Werner Rühm hier oben, wo sich Schönheit und Zerfall begegnen, ebenfalls mit Zerfall beschäfti- gen – wenn auch mit einer ganz anderen Art da- von. Ihnen geht es um die Auswirkungen der etwa beim Zerfall radioaktiver Atomkerne entstehenden ionisierenden Strahlung auf Mensch und Natur. Wir fahren mit einer kleinen Seilbahn vom Zug- spitzplatt hoch zur Umweltforschungsstation Schneefernerhaus. Es ist ein ehemaliges Hotel aus den 30er Jahren, dessen acht Stockwerke sich an den Fels schmiegen. Viele Male ist es um- und ausgebaut worden, jede Zeit hat ihre Spuren hinterlassen: den holzvertäfelten kleinen Aufzug, den Jungendherbergscharme der neu eingerichteten Übernachtungszimmer, die blauen, zweckmäßigen Linoleumböden in den Laboren, die neu verlegten Eichböden im Konferenzsaal. Im zweiten Stock liegt das Labor des Helmholtz Zentrums München, große Plastikeimer stehen dort in einer Ecke. Immer wenn es frisch geschneit hat, holt Kerstin Hürkamp mit ihnen den Neuschnee von der Messterrasse herein. Anschließend schmilzt er und kommt in den Rota- tionsverdampfer. Was Hürkamp vor allem interes- siert, sind die radioaktiven Stoffe, die er enthält. Denn wenn sich radioaktives Material in der Luft befindet, wäscht der Regen es zu Boden – die so genannte Deposition. Mithilfe von Modellen lässt sich präzise berechnen, wie schnell eine wie große Menge niedergeht. Das ist wichtig, wenn zum Beispiel nach der Freisetzung radioaktiver Stoffe in kurzer Zeit verlässliche Aussagen über die Kontamination gemacht werden müssen. Was aber, wenn es nicht regnet, sondern schneit? „Das war bisher ein unbearbeiteter Pfad der Radioöko- logie“, sagt Kerstin Hürkamp. Dabei holt Schnee noch mehr radioaktives Material auf den Boden als Regen. Um den Prozess zu verstehen, muss Hür- kamp genau hinschauen: Wie viel Schnee fällt in wie kurzer Zeit? Was ist seine Temperatur? Woher weht der Wind? Wie ist der Schnee beschaffen? Vor allem die Form der einzelnen Flocken ist wich- tig. Denn je größer deren Oberfläche, umso mehr Radionuklide nehmen sie auf. Deshalb unterschei- det Hürkamp die Kristallformen: Um ein „dendriti- sches Ereignis“ handelt es sich, wenn sechsarmige Kristalle fallen. Um ein „Mischereignis“, wenn mehr als die Hälfte der Flocken anders aussehen, etwa wie nadelige Kristalle. Dabei hilft ihr ein 2D-Video-Distrometer, das auf der Messterrasse des Schneefernerhau- ses steht. Es handelt sich um einen metallenen, oben offenen Zylinder, in den die Schneeflocken fallen. Sie werden von zwei versetzt angebrachten Laserkameras gescannt, so dass für jede einzelne Flocke zwei zweidimensionale Bilder entstehen. Eine vom Helmholtz Zentrum München neu ent- wickelte Software analysiert diese und bestimmt die Art des Schnees. Aus Bildern und Messwerten berechnet Hürkamp, welche Kontamination auf die Erde schneit. Wichtig ist all das auch in Hinblick auf den Klimawandel. Denn erstens entstehen Extremer- eignisse wie Schneestürme häufiger als früher, und sie sind, nun ja: extremer. Und zweitens können auch spät im Jahr noch Schneefälle auftreten. „Hier auf der Zugspitze haben wir 2013 erst Anfang Juni die höchste Schneehöhe erreicht“, sagt Hür- kamp. Also zu einer Zeit, in der unten im Tal längst Kühe grasten und das Korn auf den Feldern wuchs. Wenn zu dieser Zeit nach einer radioaktiven Frei setzung der Schnee die Radionuklide zu Boden wäscht, kann er größeren Schaden anrichten. Auch Gebirgsbäche und Trinkwasser können „Schnee bringt mehr radioaktives Material auf den Boden als Regen“