Citizen Science
Wie Bürger Wissen schaffen
Immer mehr Menschen greifen in ihrer Freizeit zu Fernglas oder Smartphone und helfen Wissenschaftlern bei ihrer Arbeit. Im Berliner Naturkundemuseum diskutierten Vertreter aus Wissenschaft und Gesellschaft über die Bedeutung der Bürgerwissenschaften und darüber, wie die Digitalisierung das Feld verändert.
Ein Bürger hat 40 Jahre lang Raufußkäuze auf einem kleinen Friedhof beobachtet. Jede Woche ist er dort gewesen, hat gezählt und kartiert. Nun hat er einen riesigen Datenberg. Er hat die Daten sogar digitalisiert. Von Statistik hat er jedoch keine Ahnung. Zum Glück gibt es das örtliche Naturkundemuseum. Hier kann er sich an einen Citizen-Science-Beauftragten wenden, der seine Daten durch ein Computerprogramm schickt und in einen größeren Zusammenhang bringt.
Diese Service-Stelle für Hobbyforscher ist bisher nur eine Vision. „Leider gibt es für so etwas noch keine finanziellen Mittel“, sagte Ralf Schulte vom Naturschutzbund Deutschland e.V. bei einer Podiumsdiskussion zum Thema Citizen Science, die die Helmholtz-Gemeinschaft im Berliner Naturkundemuseum veranstaltet hat. Wissenschaftler beziehen Bürger jedoch zunehmend in ihre Forschung ein. Freiwillige zählen in ihrer Freizeit Insekten, melden Fledermäuse oder messen Feinstaub. Citizen Science hat sich in den letzten Jahren zu einem Trend entwickelt. Eine gute Entwicklung? Darüber diskutierten Vertreter aus Wissenschaft und Gesellschaft in Berlin.
Einig waren sich die Diskutanten auf dem Podium vor allem in einem Punkt: Citizen Science kann den Austausch zwischen Bürgern und Wissenschaft nachhaltig fördern und damit das Vertrauen in und das Verständnis für Wissenschaft stärken. Das sei gerade in Zeiten von Fake-News, in denen viele von einer Vertrauenskrise in wissenschaftliche Fakten sprechen, von großer Bedeutung, sagte Martina Schäfer vom Zentrum für Technik und Gesellschaft der Technischen Universität Berlin (TU). Um dauerhaft dabei zu bleiben, bräuchten Bürgerwissenschaftler aber auch Wertschätzung und Anerkennung für ihre Arbeit. „Es ist wichtig, den Leuten auch etwas zurückzugeben“, sagte Schäfer. Sie sollten daran teilhaben können, was aus ihrer Mitarbeit gemacht werde, zum Beispiel indem die Forscher mit ihnen Kontakt halten, Ergebnisse visualisieren und erklären, was diese bedeuten.
Bürgerwissenschaftler können ebenbürtige Partner für die Wissenschaft sein
Am meisten tragen Bürgerwissenschaftler bisher zum Wissen über Biodiversität bei, indem sie vor allem Daten über Tiere sammeln. Doch auch in anderen Bereichen wie Gesundheit, Klima, Geschichte oder Kultur werden sie zunehmend aktiv. Unter den mehr als 120 Projekten, die auf der Seite „Bürger schaffen Wissen“ aufgeführt sind, finden sich ganz unterschiedliche Themen: Interessierte können die Entwicklung ihrer Kinder dokumentieren, historische Postkarten transkribieren oder vergessene Denkmäler melden. „Citizen Science ist ein junges Gebiet, das ein großes Potenzial hat“, sagte Otmar Wiestler, Präsident der Helmholtz-Gemeinschaft zu Beginn der Veranstaltung. „Wir stehen damit erst am Anfang.“ Wichtig sei, dass dabei Qualitätsmerkmale und Standards eingehalten würden.
Wie groß die Bedeutung von langfristig angelegten, großen Citizen Science-Projekten für die Forschung sein kann, betonte Josef Settele vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Halle: „Bürgerwissenschaftler sind für uns unentbehrliche und ebenbürtige Partner.“ Gemeinsam mit seinem Team leitet er das Tagfalter-Monitoring, eines der ersten Projekte, bei dem Freiwillige seit nun bereits zehn Jahren regelmäßig festgelegte Strecken abgehen, um Schmetterlinge zu erfassen. Auf der Basis dieser Daten konnten die Forscher die Situation vieler Arten bereits fundiert beurteilen und viel beachtete Artikel in international renommierten Fachzeitschriften veröffentlichen. Damit Qualitätsstandards eingehalten werden, checken die Wissenschaftler die Eingaben der Bürger gegen, machen Plausibilitätskontrollen. „Es gibt auch schon mal Fehler“, sagt Settele. „Aufgrund der Masse von Daten fallen diese aber nicht ins Gewicht.“
Bürgerwissenschaften haben in Deutschland eine lange Tradition. Manche Hobbyforscher gehen seit Jahrzehnen in ihrer Freizeit in die Natur, um Insekten, Vögel oder andere Tiere zu bestimmen. Bisher organisierten sich viele von ihnen in Vereinen wie den entomologischen Fachgesellschaften. „Manche unserer Mitglieder haben sich 50 Jahre mit einem Insekt beschäftigt“, sagte Klaus-Jürgen Conze, der selbst als Bürgerwissenschaftler Libellen bestimmt. „Sie wissen mehr darüber als so mancher Akademiker.“ Dieses Wissen sei auch deshalb so wertvoll für die Gesellschaft, weil Studenten an Universitäten immer weniger in Artenbestimmung ausgebildet würden, sagte Conze. Allerdings liege der Altersdurchschnitt in vielen Fachgesellschaften jenseits der 60. Damit sei diese Organisationsform für junge Leute nicht besonders attraktiv. Nachwuchs fehlt. „Jüngere Menschen interessieren sich nicht mehr so sehr für die Vereine“, sagte Conze. Einige Fachgesellschaften würden sich deshalb über kurz oder lang auflösen.
Die Digitalisierung ermöglicht den Zugang zu ganz neuen Bevölkerungsgruppen
Auf der anderen Seite gelingt es über das Internet junge und ganz neue Bevölkerungsgruppen anzusprechen. Mit speziell entwickelten Apps für Citizen Science-Projekte lassen sich Daten spielerisch erfassen und teilen. Für die Aufgaben ist meist keine große Fachexpertise gefragt. Es geht nicht darum, ein äußerst seltenes Insekt zu erkennen. Die Laien zählen Igel, zeichnen Fledermausrufe auf, fotografieren Füchse in der Stadt. Die Apps zeigen den Hobbyforschern anhand von Darstellungen genau, wonach sie suchen sollen oder ermöglichen es, Daten in interaktive Karten einzutragen. Mit dem Smartphone, das man samt Kamera sowieso immer dabei hat, ist das Dokumentieren und Vernetzen ein Leichtes geworden.
„Citizen Science ist da besonders erfolgreich, wo es darauf ankommt, auf großer Fläche möglichst viele Daten zusammenzutragen“, sagte Johannes Schwarz, der bei der Berliner Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz das Vogelmonitoring durch Ehrenamtliche betreut. „Seit es Plattformen im Internet gibt, ist die Zahl der Vogelbeobachtungen durch die Decke gegangen.“ So wurden beispielsweise auf ornitho.de, einer Seite, die erst seit ein paar Jahren existiert, mittlerweile 30 Millionen Eingaben gemacht. In seiner Berliner Behörde kooperiert Schwarz regelmäßig mit Amateurornithologen, wenn er beispielsweise Berichte zur Vogelschutzrichtlinie der EU anfertigen muss. „Ohne die Daten von Ehrenamtlichen würde das gar nicht gehen.“Sicher gebe es aber auch viele Bereiche – vor allem auch da, wo man auf Hochtechnologie angewiesen sei - in denen man Laienforscher nicht mit einbeziehen könne. „Auch in der Pathologie oder Teilchenphysik haben sie eher nichts zu suchen“, sagte Schwarz.
Martina Schäfer von der TU wollte Citizen Science schließlich nicht nur auf das Datensammeln durch die Bürger beschränkt sehen. „Das ist mir ein bisschen zu eng“, sagte sie. Gerade auf ihrem Gebiet - der Nachhaltigkeitsforschung - sei es wichtig, gesellschaftliche Akteure viel enger in die Forschung mit einzubeziehen. Bürger, die an entscheidenden Stellen in Unternehmen und Verwaltungen arbeiten, sollten ihr Erfahrungswissen bei der Lösung von Problemen wie dem Klimawandel oder der Energiewende einbringen können. „Hier geht es auch darum, dass die Wissenschaft Problemstellungen direkt aus der Gesellschaft aufgreift“, sagte Schäfer. Sie wünscht sich außerdem mehr Begleitforschung über die Wirkung von Bürgerwissenschaften. Vielleicht führt diese eines Tages zu der Erkenntnis, dass es tatsächlich sinnvoll ist, einen Citizen-Science-Beauftragten in jedem Naturkundemuseum zu haben.
Zum Abschluss der Veranstaltung stellten die beiden Helmholtz-Forscherinnen Aletta Bonn und Susanne Hecker das neue Buch „Citizen Science. Innovation in Open Science, Gesellschaft und Politik“ vor, an dem insgesamt 121 Autoren aus fünf Kontinenten über ihre Erfahrungen mit dem Thema berichten. Das Buch kann im Internet kostenlos heruntergeladen werden.
Citizen Science - Innovation in Open Science, Society and Policy
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