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Mauerfall

„Die Geschwindigkeit der Veränderung war atemberaubend“

Bild: dpa

30 Jahre nach dem Mauerfall haben wir Wissenschaftler aus Ost und West gefragt, was die historischen Ereignisse für sie bedeuteten – damals und in der Zeit danach. 

Das letzte Kolloquium in der DDR von Erhard Geißler

Als die DDR erodierte, plante ich gerade ein weiteres „Kühlungsborner Kolloquium“. Seit zwei Jahren war ich auf eigenen Wunsch nicht mehr Leiter der Abteilung Virologie des Zentralinstituts für Molekularbiologie in Berlin-Buch, sondern Leiter des „Basiskollektivs Friedensforschung des Forschungszentrums für Molekularbiologie und Medizin“. Auf dem Kolloquium sollten im September 1990 Experten aus aller Welt Empfehlungen zur Stärkung der Biowaffenkonvention erarbeiten und über einen „hippokratischen Eid für Naturwissenschaftler“ diskutieren. Die Vorzeichen standen gut: Das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschland (SED) hatte die Tagung im Mai 1989 genehmigt, die Akademie der Wissenschaften hatte zugesagt, die Kosten zu übernehmen, das Außenministerium hatte Einladungen verschickt und war bereit, den Tagungsband zu finanzieren und weltweit zu verteilen.

Der Genetiker und Abrüstungsexperte Prof. Erhard Geißler war zur Wendezeit Abteilungsleiter am Zentralinstitut für Molekularbiologie in Berlin-Buch und von 1992 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2000 an dessen Nachfolgeinstitution, dem Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin. Bild: David Ausserhofer / MDC

Dann kam der Zusammenbruch des SED-Staates, er brachte nicht nur Reisefreiheit, sondern auch Informations- und Wissenschaftsfreiheit. Wir konnten plötzlich ungehindert mit ausländischen Tagungsteilnehmern korrespondieren und telefonieren. Die Planung einer internationalen Konferenz hätte nun also ein Kinderspiel sein können. Aber es kamen auch Marktwirtschaft, Mehrwertsteuer und D-Mark – und damit standen auf einmal ganz andere Probleme im Raum: Die Tagung war nicht mehr zu finanzieren. Die Preise für Unterkunft, Verpflegung und lokalen Transport waren drastisch gestiegen. Die Teilnehmer aus den vormaligen „Bruderländern“ hätten den Tagungsbesuch mit „Westgeld“ finanzieren müssen, was faktisch nicht möglich war. Ganz abgesehen davon schwand auch das Interesse der potenziellen Teilnehmer aus der DDR: Man musste nicht mehr zu einem Kühlungsborner Kolloquium fahren, um mit Leuten aus dem Westen zusammenzutreffen und mit ihnen „Wanzen“-freie Gespräche bei Strandspaziergängen führen zu können.

Verteidigungsminister Rainer Eppelmann und Außenminister Markus Meckel waren zwar bereit, Grußworte zu verfassen, konnten aber finanziell nichts beisteuern. Andere Finanziers waren nicht zu finden. Buchstäblich in letzter Minute sprang die Volkswagen-Stiftung ein. Das Kolloquium war gerettet, fand am 14. bis 19. September 1990 statt und wurde ein voller Erfolg.  61 Teilnehmer waren aus 13 Staaten nach Kühlungsborn gekommen. Drei Wochen später verschwand die DDR von der politischen Landkarte. Fünf Monate später konnte das mehr als 500 Seiten umfassende Konferenzprotokoll an alle UN-Mitgliedsstaaten versandt werden.

In der Volkswagen-Stiftung war man beeindruckt und fortan bereit, mich am bald darauf gegründeten Max-Delbrück-Centrum bis zum Jahr 2000 mit Drittmitteln zu unterstützen. Zunächst ging es wieder um Stärkung der Biowaffenkonvention: Durch „Vaccines for Peace“ sollten militärische Biowaffenprogramme transparent gemacht werden und offen für Entwicklungsländer. Das scheiterte (und scheitert noch immer) am Beharren auf nationaler Selbstverteidigung. Später ging es um die Geschichte der Biowaffen. Daran arbeite ich noch heute, als Gastwissenschaftler des Max-Delbrück-Centrums.

"Eine einzigartige Lebenserfahrung, die mich bis heute begleitet" von Sebastian Schmidt

Es war der Abend des 9. Novembers 1989. Ich hatte gerade meine Übungsaufgaben als Physikstudent an der Universität Rostock erledigt und wollte nun an der Protestdemonstration teilnehmen, die damals regelmäßig stattfanden. Auf unserem Plakat stand „Freie Wahlen für einen Rechtsstaat“. Am selben Abend hörten wir im Radio, dass die Grenzen offen sind. Nun gab es kein Halten mehr für uns. Gleich am ersten Wochenende fuhr ich nach Hamburg, um Verwandten zu besuchen. Es war historisch, bewegend und vor allem unfassbar schön!

Prof. Dr. Sebastian M. Schmidt ist heute Mitglied des Vorstands am Forschungszentrum Jülich

Ich bin in der DDR – in Greifswald – groß geworden und hatte eine sehr schöne Kindheit und Jugend. Den materiellen Mangel habe ich nie so sehr als Einschränkung empfunden. Prägend war jedoch das Heranwachsen mit zwei Meinungen. Eine Meinung, die man zu Hause vertrat und eine zweite Meinung, die man in der Schule vortragen musste, um keine Schwierigkeiten zu bekommen. Hinzu kam der „Eiserne Vorhang“: Er trennte Ost und West, und wir standen offensichtlich auf der falschen Seite.

Mit dem Fall der Mauer hatten sich beide Probleme auf einen Schlag erledigt. Wir durften unbegrenzt reisen und unsere Meinung artikulieren. Vielleicht schätze ich diese beiden Rechte -  Reise- und Meinungsfreiheit - bis heute so außerordentlich, weil ich in einer Zeit aufwuchs, in der sie eben nicht gewährt wurden. Was mich bis heute begleitet, ist die einzigartige Lebenserfahrung, einen kleinen Beitrag geleistet zu haben, ein totalitäres System gewaltfrei zu stürzen!

Im Frühjahr 1990 fand die Frühjahrstagung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft in Regensburg statt. Als Student im 2. Studienjahr durfte ich daran teilnehmen und gemeinsam mit Kommilitonen Messungen an Quasikristallen auf einem Poster vorstellen. Ich konnte mein Glück nicht fassen: Eben noch eingesperrt im Osten durfte ich jetzt bereits an einer Tagung teilnehmen. Die Deutsche Physikalische Gesellschaft hatte mich großzügig unterstützt, wofür ich noch heute dankbar bin. Übrigens habe ich auf dieser Tagung auch Knut Urban und Joachim Treusch kennen gelernt, die beide am Forschungszentrum Jülich tätig waren, Herr Treusch als langjähriger Vorstandsvorsitzender. Wer hätte damals gedacht, dass ich auch einmal Vorstandsmitglied in Jülich werden würde! Ich zumindest nicht.

Später absolvierte ich dann ein Auslandssemester in Dubna/Russland, was insofern außergewöhnlich war, als dass die meisten Studenten sich doch eher Richtung Westen orientiert hatten. Erst 1995 nach Abschluss meiner Promotion ging ich aus Rostock weg – als PostDoc nach Tel Aviv. In den Jahren nach der Wende waren die intensiven wissenschaftlichen Kontakte zwischen unserer tollen Arbeitsgruppe in Rostock unter Leitung von Herrn Röpke und dem Institut für Kernphysik in Heidelberg unter Leitung von Herrn Hüfner sehr beflügelnd für mich. Heute versuche ich etwas zurückzugeben, indem ich Länder und Menschen, die im Wandel sind, besonders unterstütze. Georgien ist hierfür nur ein Beispiel.

"Interdisziplinäre Zusammenarbeit war gefragt" von Sigrun Kabisch

Der Mauerfall bedeutete für mich zunächst eine Verunsicherung, wie es beruflich und mit meiner Forschungsarbeit weitergeht. In den 1980er Jahren beschäftigte ich mich als junge Assistentin an der Karl-Marx-Universität Leipzig (heute: Universität Leipzig) mit Fragen der Stadtentwicklung. Mein Fokus lag auf den Wohnbedingungen. Der Bereich Soziologie wurde 1990 evaluiert, abgewickelt und unter anderem Vorzeichen neu gegründet. Damit verbunden war die Beendigung meines bisherigen Arbeitsvertrages. Ich bekam ein Angebot für eine Postdoc-Stelle an der Universität, hatte mich aber inzwischen erfolgreich für eine Mitarbeit am Umweltforschungszentrum in Leipzig UFZ beworben hatte, das am 12. Dezember 1991 gegründet worden war.

Anfangs als einzige Sozialwissenschaftlerin unter 300 Naturwissenschaftlern befand ich mich in einem neuen Forschungsumfeld. Interdisziplinäres Arbeiten war gefragt. Durch die Zusammenarbeit mit Wissenschaftler*innen benachbarter Disziplinen und die erfolgreiche Einwerbung von Drittmittel-Projekten gelang es mir, eine Gruppe sozialwissenschaftlicher Umweltforscher*innen am UFZ aufzubauen. 1999 gründeten wir dann eine sozialwissenschaftliche Sektion, die auf der gleichen Ebene wie die naturwissenschaftlichen Sektionen rangierte. Damit waren die Sozialwissenschaften in der stark naturwissenschaftlich ausgerichteten Umweltforschung etabliert. Heute gehört die erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Sozial- und Naturwissenschaften zu den international anerkannten Alleinstellungsmerkmalen des UFZ. 

Prof. Dr. Sigrun Kabisch leitet das Department Stadt- und Umweltsoziologie am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung - UFZ. Bild: UFZ

Besonders stolz bin ich auf viele internationale Projekte, denn gerade im urbanen Bereich – dort, wo der Mensch und damit auch sozialwissenschaftliche Aspekte im Mittelpunkt stehen - ist dieser integrative Forschungsansatz unverzichtbar. So konnte ich eine langjährige Zusammenarbeit mit lateinamerikanischen Partnern aufbauen. Die Helmholtz-Initiative „Risk Habitat Megacitiy“ steht dafür beispielhaft. 

Meine Arbeit am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) ermöglicht es mir, eine breite Palette von Forschungsfragen zu bearbeiten. Als sozialwissenschaftliche Stadtforscherin begreife ich die urbane Umwelt als ein System bestehend aus baulicher, sozialer und natürlicher Umwelt. Im Rahmen des Helmholtz-Forschungsprogramms genießen Forschungsthemen im urbanen Kontext eine stark wachsende Bedeutung. Die Herausforderungen des Klimawandels in Verbindung mit Wetterextremereignissen (Hitzestress, Hochwasser, Stürme) betreffen besonders stark urbane Räume. Die faire Nutzung knapper Ressourcen (Land, Wasser, Luft, Ökosystemleistungen) ist gerade in Städten eine zentrale Aufgabe, um Gesundheit und Lebensqualität zu sichern. Urbane Transformationen sind notwendig, um eine nachhaltige Entwicklung zu erreichen und Städte als lebenswerte Lebensräume weltweit zu entwickeln und zu erhalten. 

"Es gab Gewinner und Verlierer" von Thomas Voigt

Das Jahr 1989 und die beginnenden neunziger Jahre waren der ereignisreichste Zeitabschnitt meines Lebens. Ich schrieb meine Diplomarbeit und wir bekamen als Studentenehepaar im Mai 1990 unser zweites Kind. Die Geschwindigkeit der politischen Veränderungen war atemberaubend und eröffnete mir neue Möglichkeiten. 

Mit dem Diplom änderte sich für mich scheinbar wenig, da ich an der Uni bleiben konnte. Doch das Forschen war neu und aufregend: internationale Kooperation, finanziellen Mittel und die Freiheit, die Forschungsgebiete selbst auszuwählen. Es gab aber auch neue Zwänge: Um im Wissenschaftsbetrieb zu bestehen, war es notwendig, Tagungen zu besuchen, seine (manchmal nur halbfertigen) Ergebnisse vorzustellen und möglichst rasch auf Englisch zu publizieren. 

Der Anschluss der DDR brachte Verlierer und Gewinner hervor. Die Arbeitsverträge fast aller meiner Kommilitonen wurden gekündigt. Ich bekam 1990 eine Anstellung als Assistent an der Bergakademie Freiberg nach altem Hochschulrecht und hatte fünf Jahre Zeit für meine Dissertation. Besonders beeindruckend waren für mich die Begegnungen mit Doktoranden der Westhochschulen. Damals entstanden echte Freundschaften, die teilweise bis heute Bestand haben. Wir diskutierten unsere Ergebnisse und Interpretationen. Mit Joachim Schönfeld arbeitete ich gemeinsam im Elbsandsteingebirge. An ihm beeindruckte mich seine Zielstrebigkeit bei der wissenschaftlichen Arbeit.

Die Definition eines Ziels, geeigneter Methoden und der Bearbeitung in begrenzter Zeit unterschied sich sehr von der Arbeitsweise, die ich im Studium gelernt hatte. Der beschreibende Ansatz mit spekulativer Interpretation war allerdings auch im Westen bis in die achtziger Jahre verbreitet. Heute sehe ich es kritisch, dass bei der Besetzung von Professuren die Lehre nach wie vor keine große Rolle spielt. Ich beobachte den Trend, dass die eigene Spezialisierung auf die Lehre übertragen wird. Praxisrelevante Bereiche, wie Gesteinskenntnis oder die Geologie Deutschlands werden nicht mehr abgedeckt.

Thomas Voigt ist heute wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Dort erforscht er die Interaktion von Tektonik und Sedimentation in Südkasachstan und in der Trias und der Kreide Mitteleuropas.

Wie Ost- und West-Forscher voneinander lernen von Joachim Schönfeld

Im Jahr des Mauerfalls war ich 31 Jahre alt und Postdoktorand an der Universität Kiel. Ich hatte mich auf Mikrofossilien (Foraminiferen) der jüngeren Kreidezeit spezialisiert, und eine Stellenzusage für 1990 als Nachwuchswissenschaftler im Referat Meeresgeologie der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) in Hannover, wo ich die Stratigraphie von pleistozänen Sedimentkernen aus dem philippinischen Archipel bearbeiten sollte. Heute bin ich am Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel, habe mich aus der Erdgeschichte in die Gegenwart vorgearbeitet und untersuche immer noch Foraminiferen, wobei ich die Ökologie und den Chemismus heute lebender Arten für die Entwicklung von Palöoindikatoren nutze.

Dr. Joachim Schönfeld ist Paläo-Ozeanograph am GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel

Dieser Arbeitsansatz, mit Wissen über heutige Prozesse die geologische Vergangenheit zu rekonstruieren, erhielt einen entscheidenden Impuls in der Zusammenarbeit mit Thomas Voigt, damals Doktorand an der Bergakademie Freiberg. Wir haben uns nach der Wende auf der Geotagung in Dresden kennengelernt. Thomas brauchte Input bei der Interpretation von Sedimentstrukturen. Wir sind ins Elbsandsteingebirge gefahren, eine rauchige und verwunschene Gegend, in die sich Personen aus den alten Bundesländern selten verirrten. Bei der gemeinsamen Geländearbeit habe ich vermutlich selbst mehr gelernt, als ich zu Thomas Promotionsprojekt beitragen konnte. Erfahrungen, die ich mitgenommen habe, sind etwa dass man die großräumige Dreidimensionalität von Gesteinsformationen mit konventionellen geodätischen Methoden erfassen kann, und dass simple, durchdachte Analyseverfahren und selbst gebaute Geräte wertvolle Daten liefern können.

Unsere westdeutsch geprägte Fixierung auf transatlantische Kooperationen hatte uns dem Blick auf die wunderbare Vielfalt Europas verstellt. Den behutsamen Umgang mit den Menschen jenseits nun offener Grenzen und ihren Eigenarten haben wir erst mühsam lernen müssen. In den ersten Jahren der deutschen Einheit, bei leeren Kassen und Umstrukturierungen, fanden innovative Ansätze an der Geschäftsordnung der BGR und der Weisungsbefugnis meiner Vorgesetzten schnell ihre Grenzen. Ich bin dann 1993 ans Geomar nach Kiel gegangen, wo ich die Freiheit hatte, neue Projekte zu verwirklichen. Auch nach 26 Jahren bietet unser Helmholtz Zentrum für einen Wissenschaftler aus Leidenschaft gute Bedingungen, um Antworten auf spannende Fragen zu finden.

Mein 9. November

Dreißig Jahre nach der gewaltfreien Revolution und dem Fall der Mauer veröffentlicht das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin Augenzeugenberichte, Erinnerungen und Reflexionen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Es ist ein Stück Geschichtsschreibung von unten.

Mein 9. November

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