Öffentlicher Verkehr
Wie Bahnhöfe sicherer werden
An Bahngleisen herrscht oft großes Gedränge – vor allem zu Stoßzeiten. Der Hamburger Hauptbahnhof musste zeitweise seine Türen schließen, um die Sicherheit beim Ein- und Aussteigen in die Züge zu garantieren. Forscher um Maik Boltes wollen solche Situationen optimieren. Sie suchen nach Wegen, um Menschenmassen richtig zu lenken.
Der Zug fährt ein. Wie auf Signal setzen sich die Wartenden in Bewegung, zuerst trotten sie, dann wird ihr Gang forscher. Schnell drängeln und schieben sie von hinten, stemmen sich vorne gegen die geschlossene Waggontür. Denn hier ist Schluss, es geht nicht weiter. Nur hinab. Jemand stolpert und fällt.
Dieses Szenario ist genauso ausgedacht, wie es täglich an deutschen Bahngleisen geschehen kann. "Jeder drückt zu den Türen, durch diese Dynamik entsteht eine hohe Dichte", sagt Maik Boltes. Er leitet am Institut für zivile Sicherheitsforschung des Forschungszentrums Jülich die Abteilung der Empirie in der Fußgängerdynamik. "Weil es nur begrenzt Sitzplätze in der Bahn gibt, sind Reisende bereit zu drücken und zu schieben. Die Gefahr steigt, auf das Gleisbett zu stürzen." Besonders zu Großveranstaltungen, aber auch in der alltäglichen Rush-Hour, platzen Bahnhöfe und ihre Bahnsteige vor lauter Reisenden aus allen Nähten.
Das hat viele Gründe: Die alten Gebäude liegen oft im Herzen der Stadt. Das ist praktisch, sie sind gut erreichbar. Doch gibt es keinen Platz, um zusätzliche Gleise zu verlegen. Dazu kommt, dass immer mehr Menschen reisen. Täglich nutzen rund 36 Millionen Fahrgäste in Deutschland den Öffentlichen Personenverkehr. Dabei steigen die Fahrgastzahlen kontinuierlich (2006 bis 2017 um 8 Prozent für den Öffentlichen Personennahverkehr und um ca. 2 Prozent bei der Deutschen Bundesbahn).
Damit die Pendlermassen auch in Zukunft unfallfrei an ihr Ziel gelangen, muss sich also etwas ändern: Deshalb hat das "Bundesministerium für Bildung und Forschung" 2,1 Millionen Euro ausgelobt – um Bahnhöfe sicherer zu machen.
Der Startschuss zu dem großangelegten Projekt "CroMa" (Crowd Management in Verkehrsinfrastrukturen) fiel am 1. August 2018, der Forschungszeitraum beträgt drei Jahre. Neben dem Institut am Forschungszentrum Jülich sind auch die Bergische Universität Wuppertal und die Ruhr-Universität Bochum beteiligt. Projektpartner ist außerdem die Düsseldorf Congress GmbH – als Messeausrichter hat sie großes Interesse daran, Menschenmassen sicher zu lenken. Zudem gibt es eine lange Liste von Anwendern, darunter die Deutsche Bahn, die Schweizerische Bundesbahnen AG und die Kölner Verkehrs-Betriebe – die sogenannten assoziierten Partner.
Maik Boltes untersucht schon seit Jahren, wie sich Menschen zu Fuß bewegen und verhalten. Wann sie sich in eine Schlange einreihen oder doch lieber drängeln. Er sagt: "In manchen Städten warten die Einwohner sogar in Zweierreihen auf den einfahrenden Zug. Da gibt es aber Leitsysteme."
Dennoch: Prinzipien und Normen seien unbewusst erlernt. "Menschen reagieren automatisch. Uns interessiert: Wann breche ich die sozialen Regeln? Wann stoße ich von der Seite in eine Warteschlange? Was motiviert mich, eng an eng aufgereiht zu warten?" sagt Maik Boltes. Vor allem das Engegefühl in einer Menschenmasse auszuhalten, spiele eine zentrale Rolle. Je mehr und enger Menschen ungewollt eng zusammenstehen, desto eher fühlen sie sich unwohl. Es sei allerdings keine Panik, die dann das Handeln bestimme. Im Gegenteil: "Es ist rational. Wer in dieser Situation um Hilfe ruft oder in Richtung Freiheit drängt, möchte einfach überleben", sagt er.
"Wer in dieser Situation um Hilfe ruft oder in Richtung Freiheit drängt, möchte einfach überleben"
"Unser Ziel ist, so eine Situation zu verhindern", sagt Maik Boltes. Dazu sammeln die Forschungsinstitute Best-Practice-Beispiele. Zwar ist die Forschungsrichtung relativ jung, aber sogenannte Crowd-Manager und Großveranstalter, müssen schon lange Menschenmassen sicher über Festivalgelände lenken. Sie haben dabei vielversprechende Ideen entwickelt, die bald auf den wissenschaftlichen Prüfstand gestellt werden. Dazu kommen Feldstudien an deutschen und schweizerischen Bahnhöfen. Vereinzelt sind dort schon Systeme installiert, die 24 Stunden am Tag Laufwege aufzeichnen und so Gefahrenstellen identifizieren. Das erfolgt ohne Bildmaterial und somit anonymisiert.
Aus all diesen Daten, den wochenlangen Laufweganalysen, Feldstudien und Best-Practice-Konzepten, ersinnt das Projektteam Labor-Experimente. Darin wollen sie unter anderem herausfinden, wie ein Bahnhof und seine Bahnsteige aufgebaut sein könnten, um "Personenströme" ohne ein Leitsystem aus Gittern zu lenken. Dann: Welche Rolle spielen für die Probanden eigentlich soziale Normen und Handlungsstrategien, wenn sie sich in einer Menschenmasse durch den Bahnhof bis in Ihren Zug bewegen? Darauf sind die Wissenschaftler besonders gespannt, denn sie messen erstmals bei Fußgängerexperimenten die Hautleitfähigkeit und die Herzfrequenz – ein Indiz für den Stresslevel. Mit Fragebögen erfassen sie dann am Schluss, was zumutbar ist: Wann fühlen sich Menschen im Gedränge unfair behandelt? Wann wird es zu eng? Wann ist die Situation unerträglich?
"Lösungsideen für sichere Bahnhöfe erhoffen wir uns gegen Ende 2020"
Was die Forscher bereits aus früheren Experimenten wissen und gerne überprüfen möchten, ist die Ansprache über Lautsprecher: "Wenn man diese richtig wählt, kann man Menschen zu sichererem Verhalten motivieren." Der psychologische Effekt durch eine Lautsprecherdurchsage könne also – vermutlich – entscheidend zum Erfolg beitragen.
"Lösungsideen für sichere Bahnhöfe erhoffen wir uns gegen Ende 2020", sagt Maik Boltes. Vorstellbar sind Smartphone-Apps, die Informationen darüber liefern, an welcher Position des Gleises die Türen des Zuges genau halten werden. Denkbar wäre auch ein smarter Wegweiser am Bahnsteigboden, der passend zum einfahrenden Zugmodell, in Richtung der Türen leuchtet oder schon anzeigt, wie viele Plätze in welchem Abteil noch frei sind. "Unsere Projektpartner, wie die Deutsche Bahn, werden jederzeit auf dem Laufenden gehalten. Gefallen ihnen Ansätze, können sie diese sofort umsetzen."
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