Helmholtz weltweit
Wo die Erde den Meeresboden verschluckt
GEOMAR-Geologe Kaj Hoernle erforscht die Bewegungsmuster der pazifischen Erdplatte. Eine Aufgabe, für die er und sein Team nördlich Neuseelands auf einer Expedition des Forschungsschiffes SONNE Gesteinsproben von den Steilhängen riesiger Unterseevulkane kratzen.
Kaj Hoernle muss den Google Earth-Globus um 180 Grad drehen, wenn er Besuchern zeigen möchte, wohin ihn sein aktuelles Forschungsprojekt geführt hat. Der Finger des Geologen vom GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel verharrt auf einer Meeresregion etwa 450 bis 1.200 Kilometer nordöstlich Neuseelands. Drei hellgrüne Punkte deuten Inseln an, doch an ihnen bleibt das Auge des Betrachters kaum hängen. Viel eindrucksvoller ist ein langgezogener schwarzblauer Schatten, der in dieser Darstellung der Erde den Kermadec-Tiefseegraben andeutet. Entlang dieser Linie zwischen Tonga und der Nordinsel Neuseelands fällt der Meeresboden des Pazifiks bis auf eine Wassertiefe von fast 10.000 Metern ab.
Unbändige Kräfte aus dem Erdinneren ziehen ihn hier hinab, denn an dieser Stelle taucht die Pazifische Platte unter ihre Nachbarin, die Australische Platte. Die absinkende Platte bewegt sich dabei kaum schneller als ein Fingernagel wächst. Trotzdem sind die geologischen Veränderungen in dieser sogenannten Subduktionszone gigantisch - und der Grund dafür, warum Kaj Hoernle im März dieses Jahres an Bord des deutschen Tiefseeforschungsschiffes SONNE im Gebiet des Kermadec-Tiefseegrabens kreuzte. "Parallel zu diesem Graben verlaufen zwei Tiefseerücken, die heute durch ein 200 Kilometer breites Becken voneinander getrennt sind. Wir wissen, dass beide Rücken vor fünf bis zehn Millionen Jahren noch eine gemeinsame Vulkankette, den Vitiaz-Inselbogen, bildeten. Er ist dann der Länge nach gerissen, sodass die Hälften auseinanderdriften und das Becken entstehen konnte. Wir wollen verstehen, wann und wie das geschah. Welche Prozesse führen dazu, dass sich ein 2.000 Kilometer langer Inselbogen plötzlich spaltet", fragt der Geologe.
Um diese grundlegenden Fragen der Plattentektonik zu beantworten, benötigen Kaj Hoernle und sein Team Lava- und Gesteinsproben aus dem Becken, dem Graben und von den Steilhängen beider Tiefseerücken. Der geochemische Fingerabdruck des Materials erlaubt Rückschlüsse auf den Ursprung und das Alter des Gesteins und somit auf die Zeit, in der es als Lava aus einem der vielen Vulkane des Inselbogens geflossen war.
Derart aussagekräftige Gesteinsproben zu gewinnen, ist die eigentliche Herausforderung der sechswöchigen SONNE-Expedition SO255: "Für die Probennahme setzen wir eine Kettensack-Dredge ein. Dabei handelt es sich um eine Stahlkiste, die etwa 1 mal 1,5 Meter breit ist und die wir mit der Öffnung nach vorn gerichtet über den Meeres-boden ziehen. Ihr vorderer Rand ist wie eine Baggerschaufel mit Stahlzähnen versehen, sodass sie Lava- und Gesteinsbrocken vom Meeresboden abreißen kann. Das Material rutscht dann in den Kettensack der Dredge und verbleibt dort, bis wir sie an Bord holen", erklärt Kaj Hoernle.
Jeder Dredgezug wird vom Wissenschaftlerteam akribisch vorbereitet: Die Forscher analysieren hochauflösende Karten der unterseeischen Vulkanlandschaft. Wo topografische Daten oder Fakten zur Höhe der Sedimentschicht fehlen, kartieren sie die Region selbst mit den modernen Fächer- und Sedimentecholot-Systemen der SONNE. Erst dann wird entschieden, wo der stählerne Probennehmer zum nächsten Fischzug in die Tiefe sinken darf. "Am größten sind die Erfolgschancen an Bruchkanten oder Steilhängen der Vulkane und Rücken. Zum einen bedecken dort kaum Sedimente das Hartgestein. Zum anderen entstehen die Bruchkanten oft durch tektonische Störungen. Das heißt, hier reißt der Boden tief auf und gibt geologisch alte Gesteinsschichten frei, die mit Glück noch nicht verwittert sind", erzählt Kaj Hoernle.
"Die radiometrische Altersanalyse ist so aufwendig, dass wir nur 50 unserer rund 2.000 Gesteinsproben datieren lassen können."
Vom Meerwasser verändertes Gestein erkennt der Experte auf den ersten Blick. "Diese Proben haben einen ganz anderen Grauton als frisches Material. Manchmal zerbröseln sie auch, wenn wir sie in den Hand nehmen", erzählt der Geologe.
Auf dieser SONNE-Expedition bergen die Wissenschaftler mehr Probenmaterial als je zuvor in Kaj Hoernles 22-jähriger Laufbahn als Meeresgeologe. Selbst in einer Rekordtiefe von 8.800 Metern füllte sich die Dredge mit brauchbaren Vulkaniten. Jeder Stein wird an Bord genau unter die Lupe genommen. Eignet er sich für das aufwendige Datierungsverfahren? "Die radiometrische Altersanalyse ist so aufwendig, dass wir nur 50 unserer rund 2.000 Gesteinsproben datieren lassen können. Wir müssen demzufolge gut auswählen, damit unsere Proben am Ende den gesamten Zeitraum und alle wichtigen Zonen der Tiefseerücken und des Beckens abdecken", erläutert der Expeditionsleiter.
Das restliche Material teilen die Forscher auf. Ein großer Teil wird für die geochemische Analyse der Spurenelemente und Isotope aufbereitet. Einen zweiten Teil nehmen die internationalen Teilnehmer der Expedition mit in ihre Heimatinstitute in Neuseeland, Australien, den USA und Japan. Die neuseeländischen Wissenschaftler interessieren sich als "Hausherren" dieser Region vor allem für Massivsulfide. So werden Ablagerungen am Meeresboden genannt, die sich an heißen Quellen bilden. Sie sind oft reich an Edelmetallen.
Die restlichen Proben archiviert das GEOMAR-Team und stellt sie bei Bedarf Wissenschaftlern aus aller Welt für Untersuchungen zur Verfügung. "Wir haben auf dieser Expedition in Hinblick auf viele unserer Forschungsfragen sehr interessantes Gestein geborgen und bei den Kartierungen überraschende geologische Strukturen entdeckt", sagt Kaj Hoernle. "Wenn in Kürze die Container mit unseren Proben nach Deutschland zurückkehren, beginnen die Laborarbeiten. In zwei bis drei Jahren werden wir alle Ergebnisse der Ausfahrt zusammentragen und meiner Meinung nach deutlich besser verstehen, wie ein Inselbogen entsteht und welchen Lebenszyklus er durchläuft." Die Reise an das andere Ende der Welt hat sich für ihn und seine Forschungsgruppe definitiv gelohnt.
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