Rheinland Studie
"Wir wollen den individuellen Verlauf einer SARS-CoV-2-Infektion vorhersagen“
Als eine der detailliertesten Gesundheitsstudien der Welt will die Rheinland Studie eine grundlegende Frage beantworten: Was bestimmt unsere Gesundheit? Jetzt haben die Forscher ihre Untersuchungen erweitert und sind in den Kampf gegen COVID-19 eingetreten.
Wie Menschen auf den Kontakt mit dem SARS-CoV-2-Virus reagieren, ist sehr unterschiedlich. Einigen scheint der Erreger gar nichts anhaben zu können. Manche infizieren sich zwar, merken aber nichts davon. Andere verspüren grippeähnliche Symptome, die von allein wieder verschwinden. Ein Teil aber erkrankt schwer an COVID-19 und wird zum medizinischen Notfall. „Wir wollen verstehen, warum Menschen so unterschiedlich auf das Virus reagieren und was dafür die bestimmenden Faktoren sind“, sagt Monique Breteler. Die Professorin ist Direktorin für Populationsbezogene Gesundheitsforschung am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) in Bonn.
Helfen soll den Wissenschaftlern dabei ein wahrer Schatz, den sie in den vergangenen Jahren gesammelt haben: detaillierte Daten über den Gesundheitszustand und die genetische Ausstattung tausender Teilnehmer der Rheinland Studie. Seit 2016 untersuchen die Forscher regelmäßig fast 30.000 Menschen aus dem Raum Bonn. Sie erfassen die naturgegebene Ausstattung jedes Einzelnen. Wie die Genetik – das ist der Masterplan des Organismus. Die Epigenetik: das ist die Anleitung dafür, welche Gene tatsächlich ausgelesen werden. Oder auch das Metabolom – die Gesamtheit aller verstoffwechselten Substanzen im Organismus. Doch nicht nur das. Die Forscher tragen auch all jenes zusammen, was die Probanden im Laufe ihres Lebens prägt und was ihnen widerfährt. Ernährungsgewohnheiten, Lebensstil, Krankengeschichte – alles wird akribisch dokumentiert. Die Studie soll über mehrere Jahrzehnte laufen. So wollen die Forscher ergründen, wie sich Erbfaktoren, Lebenswandel und Umwelteinflüsse auf die Gesundheit der Menschen auswirken. Der Blick gilt dabei vor allem dem Gehirn und der Frage, wie es sich im Lauf des Lebens entwickelt. Neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer oder Parkinson sollen dadurch besser verstanden und bekämpft werden können.
In Bezug auf COVID-19 können die Forscher feststellen, wer schon erkrankt ist, beobachten, bei wem die Krankheit wie schwer verläuft und in den Daten möglicherweise Zusammenhänge finden. „Mitte März haben viele Forschungszentren begonnen, ihre Mitarbeiter ins Homeoffice zu schicken. Und auch wir haben uns gefragt, ob wir unsere Teilnehmer noch in die Untersuchungszentren einladen sollten“, erzählt Breteler. „Doch dann habe ich mir gedacht: Bei SARS-CoV-2 und COVID-19 kommen jetzt die gleichen Fragen auf, denen wir bei neurodegenerativen Erkrankungen schon lange nachgehen.“ Die Pandemie in ihre Arbeiten einzuschließen, lag also nahe. Doch während die Rheinland Studie auf Jahre angelegt ist, haben die Antworten auf das neue Virus Dringlichkeit. Eine solche Studie aber innerhalb weniger Wochen auf die Beine zu stellen, ist eine immense Arbeit. Lässt sich sowas überhaupt stemmen? Das fragte Breteler ihr Mitarbeiter und war vom Echo begeistert. „Das gesamte Team hat von Anfang an gesagt: Ja, das können wir! Und ja, das wollen wir.“
Auch den Virologen Christian Drosten und sein Institut an der Berliner Charité konnte die Wissenschaftlerin für ihr Vorhaben gewinnen. „Eigentlich war die Überzeugungsarbeit nicht allzu groß. Ich denke, Professor Drosten teilt unsere Einschätzung, dass im Verständnis der Infektion auch der Schlüssel zu ihrer Bekämpfung liegt.“ Bereits am 24. April haben die ersten Blutabnahmen begonnen. Die Proben werden in Drostens Labor mit dem immunologischen Nachweisverfahren ELISA (Enzyme-Linked Immunosorbent Assay) auf Antikörper untersucht. Um falschpositive Ergebnisse auszuschließen, werden alle positiven Testergebnisse mit zwei weiteren Verfahren überprüft. Damit soll sichergestellt werden, dass der ELISA-Test nicht auf andere Coronaviren angeschlagen hat.
Mit ersten Ergebnissen rechnet Breteler im Juni. „Aktuell erwarten wir, dass sich nur ein sehr kleiner Teil unserer Probanden mit dem Coronavirus infiziert hat“, sagt die Wissenschaftlerin. „Deshalb wiederholen wir die Blutuntersuchungen in einem halben Jahr.“
Dann können sie und ihr Team ihren größten Trumpf ausspielen: das bisher gesammelte Wissen über ihre Probanden. Denn in Körperbau, Verfassung und Lebenswandel ihrer Probanden hofft Breteler den Schlüssel für ihre Fragen zu finden. „Wir haben in unserer Studie zum Beispiel Menschen, die im gleichen Haushalt leben“, erklärt sie einen Ansatzpunkt für die spätere Auswertung. „Nun kann man davon ausgehen, dass zwei Personen, die eng miteinander vertraut sind, auch dem Virus ähnlich ausgesetzt sind. Aber es wird Menschen geben, die keine Infektion entwickeln. Da ist es natürlich interessant zu erfahren, was dahintersteckt.“ Auch will sie wissen, ob das Virus auf lange Sicht Spuren im Körper von Erkrankten hinterlässt. „Es gibt erste Hinweise, dass sich schwere Verläufe auf den ganzen Körper auswirken und auch neurologische Symptome verursachen können“, sagt Breteler. „Ob dies zu langfristigen Effekten führt und ob dies auch bei leichteren Infektionen der Fall ist, ist unbekannt. Diesen Fragen werden wir durch langfristige Untersuchungen innerhalb unserer Studie nachgehen.“
Natürlich liefern die Antikörper im Blut ihrer Probanden auch eine Momentaufnahme über die Ausbreitung des SARS-CoV-2-Virus. Aktuell gibt es dazu einige Studien wie die Untersuchung aus Heinsberg oder jene in München, die der Frage der Herdenimmunität nachgehen und die Dunkelziffer abschätzen sollen. Wie viele Menschen haben die Krankheit also schon überstanden, ohne in den Statistiken aufzutauchen und sind nun zumindest zeitweise immun gegen eine erneute Infektion? Eine Antwort auf die Frage ist essenziell, wenn über die Lockerung der aktuellen Beschränkungen diskutiert wird.
Trotzdem grenzt Breteler ihr Projekt von eben jenen Studien ab. „Dort suchen die Kollegen ja zielgerichtet nach der Dunkelziffer“, sagt sie. „Das können wir für unsere Bevölkerungsgruppe zwar auch. Aber das ist nicht unsere primäre Frage. Wir wollen den individuellen Verlauf einer SARS-CoV-2-Infektion vorhersagen.“ Das, glaubt Breteler, wird in Zukunft immer relevanter. „Zu Beginn der Pandemie war es wichtig zu wissen: Was machen wir mit den Patienten, die so schwer erkranken? Das war tatsächlich eine Krisenfrage“, erklärt die Epidemiologin. „Die nächste Frage war: Wie können wir die Pandemie verlangsamen, um Zeit zum Ausbau des Gesundheitssystems zu bekommen?“, fährt sie fort. „Und jetzt müssen wir wissen: Wovon hängt die Schwere der Erkrankung ab? Denn das eröffnet uns Möglichkeiten für ganz gezielte Prävention und Therapie.“
NAKO Gesundheitsstudie - COVID-19
Monique Breteler ist übrigens nicht die Einzige, die den Auswirkungen der Pandemie auf der Spur ist. Auch die von der Helmholtz-Gemeinschaft, der Leibniz-Gemeinschaft und mehreren Universitäten getragene NAKO Gesundheitsstudie widmet sich der Frage. Gut 200.000 Menschen nehmen an der Studie teil, deren Augenmerk auf den Zivilisationskrankheiten wie Krebs, Diabetes mellitus oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen liegt. Damit ist sie die größte ihrer Art in Deutschland. Seit Ende April sollen alle Probanden einen Fragebogen ausfüllen, der neben gesundheitlichen Aspekten auch Veränderungen in Beruf, Lebensstil und Sozialleben ergründen will. Die Antworten werden anschliend mit den Angaben der Studienteilnehmer vor SARS-CoV-2 und COVID-19 verglichen. Neben Verbreitung und Verlauf versprechen sich die Wissenschaftler davon vor allem wichtige Einblicke zu den Auswirkungen einer Pandemie auf die gesamte Gesellschaft.
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