Standpunkt
„Wir verlieren die Chance auf eine wertvolle und wirksame Möglichkeit, Alzheimer im Frühstadium zu therapieren“
Der Neurologe und Neurowissenschaftler Gabor Petzold vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) kritisiert die Entscheidung der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA), den neuartigen Alzheimer-Antikörper „Lecanemab“ nicht zuzulassen.
Vor Kurzem hat die EMA sich gegen eine Zulassung des Alzheimer-Medikaments „Lecanemab“ (Markenname: Leqembi) in der EU ausgesprochen. Diese Entscheidung ist für mich und andere Fachleute unverständlich. Denn eine wirksame, tatsächlich an den Ursachen der Erkrankung ansetzende Behandlungsmöglichkeit wird dringend benötigt. Auch Lecanemab bietet keine Aussicht auf Heilung, kann aber das Fortschreiten der Alzheimer-Demenz verzögern, wenn Menschen im frühen Stadium damit behandelt werden. Lecanemab unterscheidet sich von bisher zugelassenen Therapieformen, da es im Gegensatz zu ihnen nicht nur symptomatisch wirkt, sondern bei einer der Ursachen der Erkrankung ansetzt: Der Antikörper heftet sich an Beta-Amyloid-Proteine, die sich bei Alzheimer in Form von schädlichen Plaques im Gehirn ansammeln, und ermöglicht dadurch gezielt ihren Abbau durch das Immunsystem. Im Ergebnis werden der Verlauf der Erkrankung und das Fortschreiten der kognitiven und funktionellen Beeinträchtigungen verlangsamt; die Patient:innen können ihren Alltag besser bewältigen. In den Zulassungsstudien hielten diese Effekte im Vergleich zur Kontrollgruppe über mehrere Monate an.
Die Ablehnung wurde von der EMA damit begründet, dass die zu erwartende Wirkung nicht groß genug sei, um das mit Lecanemab verbundene Risiko von Nebenwirkungen aufzuwiegen. Zwar kann Lecanemab in bestimmten Fällen Nebenwirkungen haben, durch gezielte Voruntersuchungen zur Identifikation geeigneter Patienten und regelmäßige Kontrolluntersuchungen des Gehirns können diese allerdings in der Regel frühzeitig erkannt und gut gemanagt werden. Darüber hinaus kann die Behandlung fürs Erste auf Patientengruppen fokussiert bleiben, bei denen ein besonders vorteilhaftes Verhältnis von Wirkung und Nebenwirkungen erwartet wird. Darüber hinaus könnte die Therapie zunächst auf spezialisierte Zentren wie Gedächtnisambulanzen an Kliniken beschränkt werden.
Lecanemab stellt einen großen Fortschritt dar – sowohl in der ärztlichen Behandlung von Alzheimer als auch in der klinischen Forschung. Durch die Ablehnung der Zulassung in der EU wird hiesigen Alzheimer-Patient:innen im Frühstadium eine bedeutende Behandlungsoption vorenthalten, was die Versorgungsqualität im Vergleich zu anderen Ländern verschlechtert. Hinzu kommt, dass auch die europäische Alzheimer-Forschung ins Hintertreffen geraten kann, wenn nun keine Erfahrungen mit diesem Medikament gesammelt werden können. Zudem besteht die Gefahr einer Zweiklassenmedizin, da vermögende Patienten das Medikament über internationale Apotheken beziehen und sich als Selbstzahler behandeln lassen könnten.
Viele Fachleute, Betroffene und ihre Angehörigen in der EU hatten große Hoffnungen in Lecanemab gesetzt und sind nun tief enttäuscht. Der Hersteller des Medikaments hat bekanntgegeben, eine erneute Prüfung für die EU-Zulassung bei der EMA zu beantragen. Im Interesse der in der EU lebenden Patient:innen im Frühstadium von Alzheimer, und ebenso im Sinne der europäischen medizinischen Spitzenforschung ist zu hoffen, dass die EMA ihre Entscheidung überdenkt und einen sicheren und gut überwachten Zugang zu diesem Medikament ermöglicht.
Leser:innenkommentare