Wissenschaftliche Bibliotheken
Wir rücken zusammen
Im digitalen Zeitalter könnten Studierende, Dozenten und Forscher eigentlich bequem zu Hause am Computer arbeiten. Tun sie aber nicht. Bibliotheken sind gefragt wie selten zuvor.
Soweit das Auge reicht, ist es weiß. Und kalt. Unwirtlich kalt inmitten von Schnee und Eis. Selbst im Sommer liegen die Temperaturen mitunter bei minus 40 Grad Celsius. Die Neumayer-Station des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) liegt in der Antarktis. Hier gibt es Labore, eine Küche, ein Hospital, einen Funkraum und einen etwas abgelegenen farbigen Tupfer: Rund 100 Meter von der eigentlichen Forschungsstation entfernt befindet sich ein knallgrüner Container. In der Farbe der Hoffnung, der Wiesen und Wälder ist er gehalten und beherbergt seit nunmehr zehn Jahren eine kleine Bibliothek. Rund 700 gedruckte Werke stehen in den Regalen - Romane, Sachbücher, Bildbände. Im digitalen Zeitalter müssten die Mitarbeiter der Forschungsstation den Weg durch Schnee und Eis nicht auf sich nehmen. Sie könnten auch auf ihren Computern oder eBook Readern lesen. Dennoch ist die "Bibliothek im Eis" ein liebgewonnener Rückzugsort für sie geworden.
Man muss nicht erst tausende Kilometer ins Eis reisen, um zu sehen, dass Bibliotheken auch im digitalen Zeitalter vielbesuchte Orte sind. Auch hierzulande erleben sie etwas Ähnliches. Obwohl Lernende, Lehrende und Forscher heute vieles zu jeder Zeit online lesen könnten, kommen sie so zahlreich, dass es in einigen wissenschaftlichen Bibliotheken schon vormittags keine freien Leseplätze mehr gibt. Trotz der digitalen Möglichkeiten, suchen die Menschen eine Bibliothek auf, um hier in Ruhe zu lesen oder gemeinsam zu lernen - mit gedruckten Büchern ebenso wie mit elektronischen. Von einer Renaissance der Bibliothek ist schon die Rede. Weltweit entstehen moderne, attraktive Neubauten, die vom ersten Öffnungstag an hochfrequentiert sind: das Grimm-Zentrum der Humboldt-Uni in Berlin etwa mit seiner markanten terrassenförmigen Anordnung der Leseplätze, das Rolex Learning Center in Lausanne oder die zwölfgeschossige Zentralbibliothek in Seattle. Aber was lockt die Menschen eigentlich an diese Orte?
"Es gibt mittlerweile verschiedene sozialwissenschaftliche Untersuchungen darüber, was Menschen in die Bibliotheken treibt", sagt Frank Scholze, der Direktor der Bibliothek am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). "Lernende suchen demnach einerseits die konzentrierte Atmosphäre, andererseits schätzen sie es, in einer Umgebung mit anderen Lernenden zu sitzen, sie treffen hier Gleichgesinnte oder verabreden sich zur Gruppenarbeit." In den Prüfungsphasen im Frühjahr und Sommer seien die rund 1.300 Arbeitsplätze der KIT-Bibliothek nahezu vollständig belegt. "Die Auslastung unserer Bibliothek hat sich parallel zur zunehmenden Digitalisierung sogar noch verstärkt", meint Scholze.
Einige Bibliothekare, etwa der Leiter der Philologischen Bibliothek der Freien Universität Berlin, Klaus Ulrich Werner, führen das auf ein menschliches Grundbedürfnis nach sozialem Kontakt zurück. Mit der Digitalisierung der Medien entstehe parallel eine steigende Nachfrage nach Umgebungen, in denen der Mensch gerade nicht allein sei. So wie Menschen zu Konzerten oder ins Kino gingen, wollten sie sich als soziale Wesen auch zum Lernen und Arbeiten an einem realen Ort treffen. Also wachse mit der Digitalisierung gleichzeitig das Bedürfnis nach realen Begegnungsmöglichkeiten.
Mit dem Erfolg bekommen Bibliotheken sogar schon Konkurrenz. Co-Working-Spaces bieten Arbeitsplätze auf Zeit. Gerade in Großstädten treffen sie auf ein dankbares Publikum. Studierende treffen hier auf Freiberufler. Wissenschaftler auf interessierte Laien, die allesamt das Arbeiten an einem semi-öffentlichen Raum bevorzugen - nicht nur privat, nicht nur öffentlich. "Bibliotheken müssen zusehen, dass sie in diesem Wettbewerb nicht den Kürzeren ziehen", sagt Achim Bonte, der Stellvertretende Direktor der Sächsischen Staatsbibliothek in Dresden (SLUB). "Die gegenwärtige Attraktivität der Bibliothek als Lern-, Kommunikations- und Erlebnisraum kann zwar länger anhalten. Sie ist aber durchaus kein Naturgesetz."
Bonte empfiehlt Bibliothekaren deshalb dringend, sich dieser neuen Rolle bewusst zu werden. "Die Zeit der Bibliothek als Büchersammlung mit angeschlossenen Tischen ist lange vorbei", sagt er. "Trotz des großen Zulaufs müssen Bibliotheken heute neue, jeweils passende Profile entwickeln. Das ist vielerorts noch nicht angekommen." Schließlich schreitet der Wandel von Print- zu Digitalprodukten dramatisch weiter voran. In den Naturwissenschaften, in technischen Fächern oder Medizin erscheinen Fachzeitschriften nahezu vollständig elektronisch. In den Geisteswissenschaften, in denen es noch einige Zeitschriften gibt, die nur gedruckt erscheinen, gewinnt das Digitale ebenfalls immer mehr an Bedeutung.
Eine Stärke der Bibliotheken ist die Suche nach Informationen. Wenn die Nutzer Materialien von den Bibliothekaren erhalten, bedeutet das, dass sie aus verlässlichen Quellen informiert werden und nicht von irgendwem aus dem Internet. "Wissenschaftler wissen, dass hinter diesen Recherchen verlässliche Arbeit steckt, die nur von unabhängigen, qualifizierten Fachkräften geleistet werden kann, von Experten, die nicht von kommerziellen Interessen geleitet sind", sagt Scholze. Das sei ein Qualitätskriterium. "Und wer eine Bibliothek aufsucht, kann diese Expertise der Mitarbeiter direkt in Anspruch nehmen." Neben dem Recherche-Know-how sind Bibliothekare heute auch kompetente Ansprechpartner fürs digitale Publizieren. Sie wissen, welche lizenzrechtlichen Fragen beachtet werden müssen oder wie eine Arbeit open-access veröffentlicht wird. "Spitzenforschung braucht nicht nur eine exzellente Ausstattung, diese muss auch von qualifizierten Mitarbeitern zugänglich gemacht werden", sagt Scholze.
Diese Erfahrung hat auch Martin Köhler gemacht. Er leitet die Bibliothek des Deutschen Elektronen-Synchrotron (DESY) in Hamburg. Sie ist deutlich kleiner als die in Karlsruhe. Es gibt hier gerade einmal zwanzig Arbeitsplätze. Doch die Bedürfnisse der Besucher sind ähnlich. "Sehr viele Informationen sind zwar im Internet auf Knopfdruck vorhanden", sagt er. "Doch das Know-how der Mitarbeiter ist unersetzlich für wissenschaftliches Arbeiten."
Die Bibliothek kooperiert auch mit der DESY-Fortbildung. Für Veranstaltungen und Fortbildungen ist ein gemeinsamer Seminarraum direkt über der Bibliothek vorhanden. Die Bibliothekare stellen in speziellen Regalen die passende Fachliteratur für die Teilnehmer bereit. Auch das ist aus Sicht des Bibliotheksleiters ein wichtiges Kriterium für die Attraktivität seiner Einrichtung.
Für Gäste eines Instituts oder Zentrums ist eine Bibliothek ohnehin ein unverzichtbarer Ort. "Wenn wir eine Tagung oder Konferenz haben, brauchen unsere Gäste nicht nur eine Schlafgelegenheit und eine Kantine. Auch eine Bibliothek als Arbeitsort ist für sie wichtig", weiß Köhler. "Hier haben sie Zugriff auf Fachliteratur, einen WLAN-Anschluss, Präsenzliteratur." Aus eigenen Erfahrungen und den Erzählungen von Kollegen weiß er, dass über die Bibliothek einer Einrichtung nach einer Dienstreise immer erzählt wird. "Sie ist essenziell fürs Arbeiten - und damit zugleich auch ein Aushängeschild einer Einrichtung."
Für die Wissenschaftler übernehmen moderne Bibliotheken oft noch eine andere Funktion. Sie bieten ihnen einen Raum für das inter- und transdisziplinäre Arbeiten mit Kollegen. "Einige Bibliotheken stellen inzwischen wieder spezielle Lese- und Arbeitsräume ausschließlich für Wissenschaftler zur Verfügung", sagt Frank Scholze aus Karlsruhe. "So kommen sie aus ihrem regulären Alltag raus, können sich mit anderen austauschen." Zudem hätten sie in speziell dafür vorgesehenen Bereichen auch mehr Ruhe als im eigenen Büro, wo das Telefon klingelt oder andere Kollegen arbeiten.
Die Idee für die Bibliothek im antarktischen Eis stammt übrigens von einem Künstler. Der Kölner Lutz Frisch hat das Projekt zum Jahreswechsel 2004 / 2005 an der Neumayer-Station aufgebaut. "Ich wollte einen geschützten Raum auf dem Eis schaffen, in dem die Bewohner der Forschungsstation in die Weite des Schelfeises blicken können", erzählt er. "Ich wollte ihnen ermöglichen, hier die Ruhe und Inspiration zu finden, um über die Natur, die Zivilisation, Wissenschaft und Kultur nachzudenken." Auch dazu dürften sich Bibliotheken in anderen Breitengraden bestens eignen.
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