30 Jahre Tschernobyl
„Wir handelten weitgehend aus eigenem Antrieb“
Hans Kiefer ist Physiker und renommierter Strahlenschutz-Experte. Am damaligen Kernforschungszentrum Karlsruhe, dem heutigen Karlsruher Institut für Technologie, leitete er bis 1988 die Hauptabteilung Sicherheit. An die Zeit der Tschernobyl-Katastrophe erinnert sich der Zweiundneunzigjährige noch genau.
Am selben Morgen dann ein Anruf der Berufsgenossenschaft. Bundesdeutsche Firmen, erläuterte man mir, wickelten in der Sowjetunion Großaufträge ab. „Im Interesse der dort beschäftigten Arbeiter müssen wir etwas tun“, sagte der Vertreter der Berufsgenossenschaft, und ich sagte „Ja, das finde ich auch“. So kam der Kontakt zum Anlagenbauer Uhde zustande. In Orjol, 400 Kilometer östlich von Tschernobyl, errichtete das Unternehmen eine Chemiefabrik. Anfangs sah Uhde in den Strahlenwerten vor Ort keinen Grund für besondere Maßnahmen, zumal andere Firmen aus dem westlichen Ausland ebenfalls abwarteten. In Anbetracht der alarmierten Stimmung in Deutschland habe ich Uhde trotzdem dringend geraten, seine Mitarbeiter und deren Familien nach Deutschland zurückzuholen.
Mit dem Flugzeug über Basel kamen Anfang Mai dann tatsächlich rund 100 Uhde-Mitarbeiter mit ihren Familien zu uns ans Kernforschungszentrum. Ich erinnere mich noch an das schöne Wetter. Im Freien haben wir die Leute verköstigt, dann strahlenmedizinisch in Ganzkörperzählern untersucht. Die Werte – insbesondere beim Isotop Jod 131, das eine Halbwertszeit von acht Tagen hat und sich in der Schilddrüse anreichert – waren erträglich. Gleichwohl mussten alle dekontaminiert werden – einschließlich eines wunderschönen Hundes, eines Afghanen, sowie des Spielzeugs der Kinder. Vier Wochen später konnten die Uhde-Mitarbeiter in die Sowjetunion zurückkehren. Wir haben darauf gedrungen, dass sie fortan mit deutschen Lebensmitteln versorgt wurden. Mitarbeiter von mir sind ebenfalls nach Orjol gefahren. Nahe der Großbaustelle der Chemiefabrik haben sie eine Messstation aufgebaut, um sicherzustellen, dass die ausgegebenen Lebensmittel auch wirklich unbelastet waren.
Die Verunsicherung in der Bevölkerung war damals riesig; die Flut von Anfragen, die uns täglich erreichte, machte uns das bewusst. Die Informationspolitik der Bundesregierung war anfangs sehr zurückhaltend. Da war man der Auffassung „Was in 2.000 Kilometer Entfernung passiert, geht uns nichts an“. Insgesamt muss man leider sagen, dass wir, zumindest in den ersten Tagen nach der Havarie, von den Bundesbehörden in unserer Arbeit nicht unterstützt worden sind. So kam es, dass wir weitgehend aus eigenem Antrieb gehandelt haben. Meine Botschaft bei Vorträgen und Informationsveranstaltungen lautete damals: „Die Strahlenbelastung durch Tschernobyl ist für uns in Deutschland keine Gefahr“. In der Anti-Kernkraft-Stimmung seinerzeit war es schwierig, mit solchen Aussagen in die Medien zu kommen. Doch unsere Daten und Prognosen der ersten Wochen nach der Katastrophe haben sich im Nachhinein als richtig erwiesen.
Am 26. April jährt sich die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl zum 30. Mal. Der Bericht von Hans Kiefer ist Teil einer Serie, in der Helmholtz-Forscher erzählen, wie sie die Tage und Wochen nach dem Unglück erlebten und wie sich ihre wissenschaftlichen Karrieren durch den Unfall verändert haben. Weitere Beiträge finden Sie hier: www.helmholtz.de/tschernobyl
In der Kurzfolge unseres Forschungspodcast beschreibt Christoph Pistner vom Öko-Institut wie es vor 30 Jahren im Reaktor von Tschernobyl zum Super-GAU kommen konnte. In der Langfolge erklärt er, wie ein Atomkraftwerk funktioniert, welche Reaktortypen es gibt und was mit dem Atommüll geschehen sollte.
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