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Interview

„Wir brauchen ein Konzept der planetaren Lösungen“

Kartin Böhning-Gaese. Bild: Sebastian Wiedling / UFZ

Seit dem 1. September steht die Biologin Katrin Böhning-Gaese an der Spitze des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung (UFZ). Im Interview spricht sie über ihre Ziele für das Zentrum und über ihre déformation professionelle.

(lacht) Bei uns Ornithologen ist es eine déformation professionelle, dass wir immer ein Fernglas mit uns herumtragen – in jedem Urlaub und sogar bei jedem Spaziergang. Und hier am UFZ muss ich mich immer zwingen, auf den Bildschirm zu schauen.

Wegen des Vogelzugs: Mein Büro ist im obersten Stock eines Gebäudes im Wissenschaftspark Leipzig untergebracht, und da kommen gerade die Stare vorbei und die Mehlschwalben. Ich könnte hier den ganzen Tag einfach nur Vögel beobachten.

Nein, und sogar im Studium habe ich mich erst einmal in Richtung Neurowissenschaft und Immunbiologie orientiert. Zur Ornithologie kam ich in der Diplomarbeit, was eigentlich schon fast zu spät ist. Dann hat es mich aber richtig gepackt: Ich habe eine ganze Saison lang mit Weißstörchen verbracht, von der Ankunft aus Afrika bis zum Abflug. Jeden Tag war ich draußen und habe sie beobachtet – die Aufzucht der Jungen, die Futtersuche, die Schlechtwettereinbrüche.

Davon bin ich überzeugt. Eine wichtige Lehre habe ich aus den USA mitgenommen: Da wollte ich eigentlich weiter Vögel studieren, aber bin dann in den damals völlig neuen Bereich der Makroökologie geraten. Mich faszinierte der Ansatz, dass man nicht im Detail ein System nach dem anderen untersucht – also zum Beispiel jede Tierart einzeln –, sondern die großen Muster über die Erde hinweg betrachtet. Aber ich habe ebenso gemerkt: Würde man die Systeme nicht kennen, könnte man nicht die richtigen Fragen stellen. Genau das gilt sicher auch für meine Tätigkeit am UFZ.

Ich habe gelernt, als Naturwissenschaftlerin die Antworten nicht alleine zu suchen. Man muss interdisziplinär arbeiten, etwa mit den Sozialwissenschaften. Und das ist es übrigens, was mich am UFZ fasziniert …

Mit seiner inhaltlichen Breite, seinem integrativen Forschungsansatz, der gelebten Interdisziplinarität und dem erfolgreichen Transfer von Wissen und Technologie in die Gesellschaft ist das UFZ schon sehr weit. Das begeistert mich unheimlich. Und obwohl ich ja viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vom UFZ aus meiner eigenen wissenschaftlichen Arbeit schon kannte, entdecke ich jeden Tag neue Leuchttürme und hochspannende Verknüpfungen.

(lacht) Natürlich bringe ich viele Ideen mit, um das UFZ weiterzuentwickeln. Ein Beispiel: Ich würde gern die Schnittstellen zur Gesellschaft noch weiter stärken – sowohl Richtung Politik, als auch Richtung Wirtschaft und breite Öffentlichkeit. Denn in vielen Bereichen, in denen es Probleme gibt – etwa beim weltweiten Artenschwund, der Anpassung an den Klimawandel oder auch beim Umgang mit Wassermangel oder -verschmutzung – haben wir vor allem ein Umsetzungsdefizit. Die Frage ist also, wie bringen wir das Wissen dorthin, wo es gebraucht wird? Und wie können wir die Veränderungen so anstoßen, dass die Menschen sie gern mittragen? Ich bin überzeugt davon, dass die klassischen Kommunikationswege dafür nicht ausreichen. Wir müssen viel mehr als bislang in einen Austausch kommen und uns viel Zeit dafür nehmen, erst einmal zuzuhören: Wo drückt der Schuh eigentlich, wo sind die Probleme? Vielleicht ändert sich dadurch auch die eine oder andere wissenschaftliche Fragestellung – und gewinnt dadurch eine ganz andere Relevanz.

Nehmen Sie das Konzept der planetaren Grenzen. Es beschreibt, wie sich Erdsysteme verändern, und dahinter steht die Hypothese, dass es Kipppunkte gibt, nach deren Überschreiten es keinen Weg zurück mehr gibt. Ein positives Ergebnis dieses Konzepts ist, dass sich viele Menschen bewusst gemacht haben, dass der Planet eine Grenze hat und man nicht einfach weiterwirtschaften kann wie bisher. Der Nachteil aber ist, dass es die Leute ratlos zurücklässt. Wenn sechs von neun planetaren Grenzen überschritten sind – was bedeutet das für mich und mein persönliches Leben? Gerade bei vielen jungen Leuten löst das, zusammen mit der Klimaangst und dem Artensterben, tiefe Verzweiflung aus.

Wir brauchen ein Konzept der planetaren Lösungen. Wir in der Wissenschaft sollten erarbeiten, was Lösungswege sind, um ein gutes Leben innerhalb der planetaren Grenzen zu führen – und zwar für alle Menschen, ob hier bei uns oder im Globalen Süden, ob wohlhabend oder weniger wohlhabend.

Wir wissen alle, dass viele Probleme miteinander zusammenhängen. Wenn ich also auf den Äckern in großem Maßstab Energiepflanzen anbaue, geht damit oft Biodiversität verloren und es gibt eine Konkurrenz mit dem Anbau von Nahrungsmitteln. Diese Zusammenhänge kennt inzwischen fast jeder. Was aber gern übersehen wird: Auch die Lösungen hängen miteinander zusammen. Nicht nur die Probleme sind systemisch, sondern auch die Lösungen.

Vor kurzem wurde das Renaturierungsgesetz in Europa verabschiedet, nach dem 30 Prozent der stark gestörten Flächen wiederhergestellt werden sollen. Da sollten wir Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das notwendige Wissen zur Verfügung stellen. Das ist bisher nur in Ansätzen vorhanden. Zusätzlich gilt auch hier, die Veränderungen auf eine Art zu gestalten, dass die Menschen sie gern mittragen und nicht vor den Kopf gestoßen sind. Mein Eindruck ist, dass im Moment in der Gesellschaft viele Blockaden existieren.

Ich sehe uns in drei Rollen: Wir wollen Pionier sein in exzellenter disziplinärer, aber auch interdisziplinärer Forschung. Wir wollen Vermittler zwischen Umweltforschung, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sein. Und wir möchten als Katalysator fungieren für den gesellschaftlichen Wandel in Richtung Nachhaltigkeit.

Ich möchte gern unsere Zukunftsthemen neu definieren, um die Forschung konsequent in diese Richtung aufzustellen. Ein zweiter Punkt: Wir wollen für diese Themen die besten Köpfe aus aller Welt für uns gewinnen und beschäftigen uns deshalb mit den Karrierewegen am UFZ, um weiterhin attraktiv zu sein. Beides möchte ich in engem Schulterschluss mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des UFZ angehen und will deshalb einen Strategieprozess anstoßen, in dem wir genau diese Fragen klären.

Auf jeden Fall. Und wir können unsererseits übrigens auch etwas in die Helmholtz-Gemeinschaft einbringen. Sie hat sich ja auf die Fahnen geschrieben, die großen Herausforderungen anzugehen, und an vielen Stellen spielt da die Umweltforschung eine riesige Rolle. Die besten technischen Innovationen sind nur dann gut, wenn sie keine Kollateralschäden haben und sich die Menschen ihnen nicht verschließen. Und die Lösung der großen Umweltthemen bestimmt auch die Zukunft des Technologiestandorts Deutschland. Es wird also viele Anknüpfungspunkte geben – ich freue mich darauf, Helmholtz hier noch besser kennenzulernen. Das gilt übrigens auch für die Stadt Leipzig.

Nein, wir suchen noch – ich ziehe zusammen mit meinem Mann hierher. Und neben allen beruflichen Vorsätzen habe ich auch einen für meine Freizeit gefasst: Ich schätze gute Weine und will das nächstgelegene Weingebiet gründlich erkunden, nämlich Saale-Unstrut. Mit dem Regionalzug ist man in weniger als einer Stunde dort.

Sehen Sie, und das finde ich einen besonders tollen Zufall: Aufgewachsen bin ich nämlich auf der Schwäbischen Alb, und da ist die Landschaft ebenfalls von Kalk geprägt. Umso gespannter bin ich auf die Entdeckungen hier in der Natur rund um Leipzig.

Prof. Dr. Katrin Böhning-Gaese ist seit September die Wissenschaftliche Geschäftsführerin des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung (UFZ) in Leipzig und seit 2010 Professorin an der Goethe-Universität Frankfurt. Bis August 2024 war die Biologin Direktorin des Senckenberg Biodiversität und Klimaforschungszentrums in Frankfurt am Main. Ihr Studium absolvierte sie in Tübingen mit Forschungsaufenthalten in den USA. Sie ist Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina und erhielt für ihre Arbeit zahlreiche hochkarätige Auszeichnungen wie den Deutschen Umweltpreis.

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