Kommentar
Wie immunisiert man gegen Infodemie?
Ob Corona-Pandemie oder Klimawandel – zu komplexen Themen gibt es jede Menge Falschinformationen, die sich rasant verbreiten. Eckart von Hirschhausen weiß, was dagegen hilft: Schnelles Reagieren, klare Sprache, Faktenchecks und neue Multiplikatoren. Ein Kommentar.
Hand aufs Herz – haben Sie verstanden, wie die Corona-Warn-App funktioniert? Da werden Millionen in die Entwicklung gesteckt, aber die Kommunikation darum herum lässt jede Menge Fragen offen. Stattdessen „wissen“ viele, dass bald eine Impfpflicht kommen soll, die de facto gar keiner will. Noch nicht mal Bill Gates! Wir erleben gerade sehr wirre Zeiten, deshalb freut es mich, an dieser prominenten Stelle ein paar Gedanken als Arzt und Wissenschaftsjournalist mit Ihnen zu teilen.
Jeder hat das Recht auf eine eigene Meinung, aber nicht auf eigene Fakten. Wir haben nicht nur eine Epidemie, sondern auch eine Infodemie, einen gefährlichen Verlust an Deutungshoheit von Politik, Wissenschaft und Medien. Es wäre sehr leicht, sich jetzt über die obskuren Theorien der Leugner zu erheben, aber viel spannender finde ich die Frage: warum sind sie erfolgreich und was hilft dagegen? Neu ist das Problem nicht, deshalb ein älteres Beispiel, um das Prinzip „Zweifel säen“ zu erläutern.
Professor Dieter Köhler beherrschte wochenlang die Debatte über Grenzwerte für Feinstaub und Stickoxid in den Medien – mit völlig falschen Zahlen und Argumenten. Von mehrtägigen BILD-Titelschlagzeilen bis zu „Stern TV“ oder „Hart aber fair“ durfte der selbsternannte Experte seine Thesen verbreiten. Ich erinnere mich noch, wie ich vor dem Fernseher verzweifelte, als bei „Anne Will“ ein sichtlich überforderter echter Epidemiologe ausführlich das Vorgehen der Weltgesundheitsorganisation, den Publikationsprozess und die Belastbarkeit von Studien zu erklären versuchte, bis ihn Anne Will unterbrechen musste mit dem diagnostischen Satz: „Wir haben hier ein anderes Tempo als in Ihrer Wissenschaft.“
Im Kampf gegen Falschinformationen ist Geschwindigkeit ein Schlüssel. Eine verzögerte Reaktion wirkt in der Schnelllebigkeit der Aufmerksamkeitsgesellschaft wie eine Bestätigung. Momentan fühlt sich dafür aber keine Institution so richtig zuständig, und Lücken, die wir im Denken lassen, werden nach dem Modell der Heuristik ausgefüllt, von dem was leicht verfügbar ist.
Daraus ergeben sich aus meiner Sicht drei Ansatzpunkte:
- Auf der Senderseite von Informationen: eine „zentrale schnelle Einsatztruppe“, die Trends im Netz frühzeitig erkennt und innerhalb von wenigen Stunden die Fehlinformationen benennt, zerlegt und zwar auf Augenhöhe und Waffengleichheit, d.h. auf den gleichen Plattformen, mit Bewegtbildern, guter Grafik, bekannten Sprecherstimmen etc. Zudem braucht es mehr Forscherinnen und Forscher, die intensiv für Talkshow-Situationen geschult werden, um dort sprachfähig zu sein: verständlich, bildstark und auf den Punkt.
- Auf Seiten der Empfänger von Informationen müssen wir die „Bullshit-Resilienz“ erhöhen, d.h. von der Grundschule angefangen bis zur Politik dafür zu sorgen, dass ein stärkeres Wissen über Recherchewege, Bewertung von Quellen und die Verzerrungen und Denkfehler Allgemeingut werden. Wir haben alle gelernt, uns die Hände zu waschen, um keine Keime weiterzugeben. Wann lernen wir, auch auf den Handys Hygienestandards einzuhalten und keine toxischen Falschinformationen weiterzugeben?
- Auf der Metaebene möchte ich anregen, die eigenen Prioritäten in der Wissenschaftsförderung zu hinterfragen: Wie viel Forschungsgelder fließen in die „Science of Science Communication“? Ja, Grundlagenforschung ist wichtig. Aber weder ist die Pandemie ein rein medizinisches Problem, noch ist die Klimakrise ein rein physikalisches. Beide Krisen bedürfen grundlegender Änderungen in den politischen Rahmenbedingungen und im Verhalten. Deshalb braucht es mehr Verständnis für die psychologischen Mechanismen und sozialen Normen, die darüber entscheiden, ob Maßnahmen akzeptiert oder abgelehnt werden.
Entspricht die Budgetverteilung von BMBF, DFG, Helmholtz und den anderen großen Playern wirklich den Problemen, die wir gerade lösen müssen? Das Überleben der Menschheit ist so massiv gefährdet wie noch nie. Die nächsten zehn Jahre entscheiden darüber, wie es die nächsten 10.000 Jahre mit der Überhitzung der Erde, der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen, unfassbaren Verlusten der Artenvielfalt und Biotope und mit lauter neuen Pandemien weitergehen wird. Ich mache mir wie viele andere ernsthafte Sorgen um die Zukunft all dessen, was ich an unserer Zivilisation, Kultur und Demokratie liebe. Deshalb frage ich mich, ob es noch eine gravierende „Falschinformation“ gibt: dass sich viele kluge Köpfe in diesem Land mit allem möglichen Beschäftigen, aber nicht mit den Kernthemen unseres Überlebens. Im Sinne der „pluralistischen Ignoranz“ signalisiert die Verteilung von Aufmerksamkeit, Hirnschmalz und Ressourcen ebenfalls: „So schlimm ist das alles nicht, eigentlich können wir weitermachen wie bisher.“ Warum suchen wir weiter mit einem Großteil unserer kollektiven Kraft Erkenntnisse auf Rezeptor- oder Molekülebene, wenn es gerade um die Ebene der planetaren Grenzen und Kipppunkten des Erdsystems geht?
Wenn sich jetzt einige Leser wundern, warum hier ein „Fernsehfuzzi“ zu so ernsten Themen etwas schreibt, kurz etwas zu meinem Hintergrund. Ich habe mit einem Stipendium der Studienstiftung Medizin und Wissenschaftsjournalismus studiert und arbeite seit über 30 Jahren mit sehr unterschiedlichen „Darreichungsformen“ als Vermittler zwischen den Welten: als Bühnenkünstler, als Fernsehmoderator, als Sachbuchautor und seit 10 Jahren auch viel in der Vernetzung hinter den Kulissen: als Berater an den Schnittstellen von Gesundheitswesen und Politik, beispielsweise mit den Akteuren vom „Nationalen Aktionsplan Gesundheitskompetenz“. Ich habe keine Angst vor dicken Brettern wie Organspende, Impfen oder Klima. Seit zwei Jahren widme ich mich im Wesentlichen, inzwischen auch mit meiner eigenen Stiftung „Gesunde Erde – Gesunde Menschen“, der größten Gesundheitsgefahr von allen: der Zerstörung unserer Lebensgrundlage durch die Klimakatastrophe. Die Corona-Pandemie ist der Preis, den wir für den Wildtierhandel, die gnadenlose Vernichtung von Lebensräumen und die Globalisierung zahlen. Mehr als die Irrlichter der vermeintlichen Querdenker sorgen mich all die Themen, die unter ihrem Geschrei und der medialen Verkürzung auf Infektionszahlen zu kurz kommen. Die Übersterblichkeit durch Hitze im vergangenen Sommer 2020 lag höher als durch COVID-19 im Frühjahr.
In all diesen Feldern gilt: Wissen und Informationen sind im Überfluss vorhanden. Das „Knowledge Deficit-Model“ ist längst widerlegt, es ist Aberglaube daran festzuhalten, dass wir nur immer weiter forschen und veröffentlichen müssen und dann wird irgendwann die Welt vernünftig. „Scientific research shows, that showing people research does not work“, nennt das der MIT-Professor John Stermann von Climate interactive. Und um mit Paul Watzlawick zu sprechen: „If something does not work, do something different!“
„Different“ könnte sein, einmal vor der Welle der Falschinformation zu sein. Es ist absehbar, dass wenn wir alte und vorerkrankte Menschen impfen, mehrere von ihnen im zeitlichen Zusammenhang mit der Impfung sterben werden. In dem Moment werden sich alle Impfskeptiker bestätigt fühlen, das Impfen sei schuld. Wer zieht ihnen vor dem erwartbaren Ereignis bereits kommunikativ diesen „Trumpf“ aus dem Ärmel?
Die Geschwindigkeiten, mit denen Unsinn verzapft und Aufmerksamkeit erzeugt wird, und die oft wochenlange Zeit, die seriöse Institutionen und Institute brauchen, um die Gegenwehr zu organisieren, passen einfach überhaupt nicht mehr zusammen. Wenn eine hervorragende Institution wie das Science Media Center zu den tagesaktuellen Hintergrundinformationen und O-Tönen der Wissenschaftler noch mit ein paar zusätzlichen Stellen Grafik, Animation und Social-Media-Content liefern könnte, könnte das meines Erachtens ihre Reichweite in die Redaktionen enorm erhöhen.
Wenn das öffentlich-rechtliche System in der Kritik steht, frage ich mich, warum gibt es zig Talkshows von politischen Journalisten, in die Wissenschaftler eingeladen werden, aber keine einzige Talkshow von einem Wissenschaftsjournalisten, in der man Politiker befragt, warum sie auf Virologen hören, aber nicht auf Klimawissenschaftler? Warum gibt es in der ARD „Börse vor Acht“, aber kein „Klima vor Acht“? Und andersherum: Wird an den Wissenschaftszentren genug dafür getan, dass die Konsequenzen der eigenen Arbeitsfelder für die Öffentlichkeit und die politischen Entscheidungen sichtbar und wirkungsmächtig werden? So viele Gutachten und Stellungnahmen werden bestellt, erstellt, abgeheftet und vergessen. Dabei gibt es so viele hochrelevante Ergebnisse und Zusammenhänge: Das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) beginnt gerade über die Auswirkungen von Hitze aufs Gehirn zu forschen, Claudia Traidl-Hoffmann vom Helmholtz Zentrum München und ihre Arbeitsgruppe ist sehr aktiv, die bedrohliche Zunahme von Allergien durch Feinstaub, invasive Arten, Extremwetter etc. zu kommunizieren. Aber wie vielen Bundesbürgern ist etwa der Zusammenhang von Luftverschmutzung durch Verkehr, Landwirtschaft und Kohleverstromung und dem Killer Nummer Eins, den Herz-Kreislauferkrankungen, bekannt? Wie kommen diese Erkenntnisse aus den Silos und Filterblasen heraus? Braucht es andere „Superspreader“ von Wissen zwischen der Wissenschaft und der Öffentlichkeit?
Für meine WDR-Doku „Hirschhausen auf Intensiv“ war ich eine Woche lang in einem Krankenhaus der Maximalversorgung unterwegs. Ich habe niemanden gefunden, der COVID-19 harmlos fand. Als bei den verheerenden Waldbränden in Australien der kohleverliebte Premierminister einem Feuerwehrmann gratulieren wollte, verweigerte dieser ihm den Handschlag mit dem großartigen Satz: „Sie werden am Ende eines Feuerwehrschlauches keine Klimaleugner finden“. Das saß. Feuerwehrleute, Sanitäter, Pflegefachkräfte und überhaupt die Gesundheitsberufe sind viel glaubwürdiger in der Öffentlichkeit als alle Politiker, Journalisten und Manager zusammen. Weil über die Akzeptanz einer Botschaft weniger ihr Inhalt entscheidet als ihr Überbringer, braucht die Szene neue Botschafter, nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Menschen an der Basis, die schon jetzt mit den Folgen der Pandemie, der Überhitzung und neuen Allergien und Infekten zu tun haben. Warum wird so viel über, aber so wenig mit Pflegefachkräften gesprochen? Warum gibt es keine Podcasts und Fortbildungen für diese zentralen Multiplikatoren in der Mitte der Gesellschaft?
Offene Fragen finde ich spannender als bei einem so komplexen Thema mit fertigen Antworten zu kommen. Ich hoffe, für Sie war eine gute Frage dabei.
Eckart von Hirschhausen
Dr. Eckart von Hirschhausen (Jahrgang 1967) studierte Medizin und Wissenschaftsjournalismus in Berlin, London und Heidelberg. Seine Spezialität: medizinische Inhalte auf humorvolle und nachhaltige Art und Weise zu vermitteln. Seit über 20 Jahren ist er als Komiker, Sachbuchautor und ARD-Moderator erfolgreich. Er ist ein gefragter Redner und Impulsgeber für Kongresse und Tagungen, hat mehrere Lehraufträge und ist seit 2020 Ehrenmitglied der Fakultät der Charité.
Eckart von Hirschhausen ist Mitbegründer von „Scientists for Future“ und Unterstützer der „Deutschen Allianz Klimawandel und Gesundheit“ (KLUG). Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit machte ihn zum Botschafter für globale Gesundheit und die Agenda 2030, für das Umweltministerium ist er als Botschafter für die biologische Artenvielfalt aktiv. 2020 hat er die Stiftung „Gesunde Erde – Gesunde Menschen“ gegründet, um das Konzept von „planetary health“ und den engen Zusammenhang von Klimaschutz und Gesundheitsschutz stärker in die Politik und die Öffentlichkeit zu bringen. Dafür arbeitet er mit dem World Health Summit, der Mercator-Stiftung und der Bill und Melinda Gates Stiftung zusammen.
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