Standpunkt
Warum Europa das Nature Restoration Law braucht
Die EU hat am 27. Februar 2024 ein international einzigartiges Gesetz zum Schutz der Artenvielfalt beschlossen: das Nature Restoration Law (NRL). In einem Standpunkt erläutert der Ökologe Guy Pe’er vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung – UFZ, warum das NRL so wichtig ist und wieso es ohne finanzielle Hilfen für die Landwirte nicht funktionieren kann.
Das Nature Restoration Law reagiert auf besorgniserregende Befunde der Europäischen Umweltagentur: Rund 80 Prozent der Lebensräume in der EU befinden sich demnach in schlechtem ökologischem Zustand. Mit der Verschlechterung der Lebensräume geht auch die Zahl der Arten zurück. 38 Prozent der Fischpopulationen befinden sich in einem schlechten Zustand. Jede zehnte Bienen- und Schmetterlingsart ist vom Aussterben bedroht, und die Zahl der Ackervogelarten ist seit 1990 um 36 Prozent zurückgegangen.
Welche Maßnahmen wir ergreifen können, wissen wir seit Langem, etwa Flüsse renaturieren, den Einsatz von Pestiziden reduzieren um Bestäuber zu schützen, mehr Brachland liegen lassen, Grünflächen in Städten ausweiten, Moore wieder vernässen und die natürliche Erholung von Wäldern zulassen. Einzelne Länder und Gemeinden treiben dafür bereits sehr erfolgreiche Initiativen voran. Was bislang jedoch fehlte, war ein gemeinsames Vorgehen und eine Verpflichtung aller EU-Mitgliedstaaten.
Hier legt das NRL nun erstmals klare Richtlinien vor – und nennt auch einen verbindlichen Zeitplan: Bis 2030 müssen für 20 Prozent der geschädigten Regionen Maßnahmen eingeleitet werden, um die Natur dort wiederherzustellen. Bis 2050 sollen solche Schritte dann für 90 Prozent der betroffenen Ökosysteme gefunden sein. Wie die einzelnen EU-Mitgliedstaaten diese Vorgaben konkret umsetzen, können sie sehr flexibel festlegen.
Für den Schutz der europäischen Natur ist das NRL damit ein mächtiges Werkzeug. Denn das Gesetz legt erstmals nicht nur klare Zielvorgaben fest, sondern fordert auch regelmäßiges Monitoring. Auf entsprechend ausgewiesenen Flächen soll künftig zum Beispiel geprüft werden, ob dort die Zahl der besonders bedrohten Wiesenschmetterlinge steigt. Wiesenschmetterlinge sind sehr empfindlich und gelten als Frühwarnsystem für Veränderungen im Ökosystem. Belegen Messungen ihren Rückgang, können Gemeinden rechtzeitig reagieren und gegensteuern.
Über diese Inhalte haben die EU-Kommission und der Umweltausschuss des EU-Parlaments über Monate hinweg gerungen, im November vergangenen Jahres konnten sie sich schließlich einigen. Als letzte Hürde galt die Abstimmung im EU-Parlament Ende Februar.
Angesichts der politischen Reaktionen auf die Proteste der Landwirte in ganz Europa drohte die Verabschiedung des Gesetzes in letzter Minute zu scheitern. Die politischen Entscheidungsträger haben innerhalb kürzester Zeit die umweltpolitischen Ziele heruntergeschraubt, indem sie nun schon das dritte Jahr in Folge Ausnahmen für die Flächenstilllegung vorsehen und die Verordnung über die nachhaltige Nutzung ablehnen. Daraufhin folgte ein ungewöhnlicher Antrag auf Änderung der NRL. Glücklicherweise wurde das Gesetz mit einer Mehrheit von 329 Stimmen bei 275 Gegenstimmen doch noch verabschiedet.
Druck auf das NRL übten unter anderem Landwirt:innen aus, die Restriktionen befürchten. Tatsächlich ist die intensive Landwirtschaft eine der Hauptursachen für den Verlust der biologischen Vielfalt in Europa und ein Treiber für den Klimawandel und die Verschlechterung der Bodenqualität. Deshalb scheint es so, als stelle das NRL gerade Landwirt:innen vor Herausforderungen, etwa wenn sie oder ihre Vorfahren Moore trockengelegt haben, um die Flächen als Felder zu nutzen. Heute wissen wir, wie bedeutsam diese Areale für die Artenvielfalt und den Klimaschutz, aber auch die Wasserregulierung und den Schutz vor Überflutungen sind. Ihre Renaturierung sollte deshalb – wie vom NRL vorgesehen – schrittweise vorangetrieben werden.
Klar ist aber auch: Die Bäuerinnen und Bauern müssen entschädigt werden, wenn sie diese Flächen renaturieren. Viele Umweltauflagen können gerade kleinere Höfe nur umsetzen, wenn sie dabei finanziell unterstützt werden. Dafür könnten die Mittel der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) der EU eingesetzt werden. Diese sollten vorrangig Kleinbetrieben und jenen Landwirt:innen zugutekommen, die anstreben auf nachhaltige Landwirtschaft umzusteigen, und weniger Großkonzernen und Großgrundbesitzern , die die Existenz von Klein- und Familienbetrieben gefährden. Für weitere finanzielle Hilfen könnten zudem auch klimaschädliche Subventionen gestrichen werden. Die so gewonnenen Mittel würden stattdessen Bäuerinnen und Bauern beim Erhalt der Natur unterstützen.
Jetzt, da das NRL genehmigt wurde, könnte es eine einzigartige Gelegenheit bieten, Anstrengungen und Mittel für die Wiederherstellung der Natur und für die daran beteiligten Menschen zu mobilisieren. Für die Umsetzung sind jedoch noch Hürden zu nehmen. So müssen die Mitgliedstaaten beispielsweise Finanzierungsmechanismen festlegen. Darüber hinaus haben die EU-Mitgliedstaaten immer noch die Möglichkeit, das Gesetz auf landwirtschaftlichen Flächen für ein Jahr auszusetzen, wenn „außergewöhnliche Umstände“ vorliegen. Das wird angesichts des Klimawandels der Fall sein, wie wir an den zahlreichen Krisen der letzten Jahre – Dürren, Hitzewellen, Überschwemmungen, Schädlingsbefall usw. – sehen können.
Dabei könnten die Maßnahmen des NRL aus wissenschaftlicher Sicht tatsächlich dazu beitragen, solche Umweltereignisse abzumildern. Wiederhergestellte Landschaftselemente, diversifizierte landwirtschaftliche Betriebe und gesündere Böden können extremen Ereignissen besser standhalten, mehr Feuchtigkeit zurückhalten und Bestäuberpopulationen wiederherstellen. Wir sollten daher hoffen, dass die Mitgliedstaaten die Chance ehrgeiziger Umsetzungspläne als Versicherung für die Produktion und die Ernährungssicherheit sowie als Instrument zur Förderung des ländlichen Raums und zur Entwicklung grüner Arbeitsplätze erkennen.
Das Votum für die NRL kann eine große Chance für die EU sein, ein Vorbild für andere Weltregionen zu werden.
Ergänzung der Redaktion (04. März 2024):
Den durch das EU-Parlament am 27. Februar angenommenen Gesetzestext kann man hier nachlesen: https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2024-0089_DE.html
Eine Hürde muss das Gesetz noch meistern, denn es muss noch vom Europäischen Rat angenommen werden. Die Entscheidung ist für den 12. April geplant.
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