Portrait
Von Odessa nach Saarbrücken
Die Pharmazeutin Mariia Nesterkina machte in Odessa eine Karriere im Zeitraffertempo. Jetzt musste sie vor dem Krieg flüchten – und hat ihr Labor in der Ukraine gegen ein Leben im Saarland getauscht. Auch dort forscht sie jetzt an neuen Medikamenten.
Dass sie in ihrem neuen Leben angekommen ist, hat Mariia Nesterkina erst am Vormittag gespürt: Beim Arzt war sie da, eine reine Routine-Untersuchung, und schnell entspann sich ein Gespräch. „Wir haben über Gewebe und über verschiedene Lösungsmittel gesprochen“, sagt Nesterkina. Die Pharmazeutin aus Odessa und der Arzt aus Saarbrücken verfielen gleich in medizinischen Smalltalk – „und ich merke, dass ich diese Themen immer besser auch auf Deutsch schaffe!“
Ihr neues Leben baut sich die 30-Jährige am Helmholtz-Institut für Pharmazeutische Forschung Saarland (HIPS) auf, dort hat sie eine Postdoc-Stelle im Bereich der Wirkstoffdosierung und -optimierung. Es ist die erste Aufgabe in ihrer Karriere, die sie nicht selbst geplant hatte; bis zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine wählte sie ihre beruflichen Stationen mit langem Vorlauf. Eine Bilderbuchkarriere schaffte sie auf diese Weise: Als sie in pharmazeutischer Chemie promovierte, war sie gerade einmal 25 Jahre alt. Nach einem kurzen Ausflug in die Medikamentenforschung wechselte sie als Postdoc an die Mechnikov-Universität in Odessa und war schließlich drei Jahre lang an der polytechnischen Universität als Associate Professor tätig – „zu meinem Team gehörten zwar nur sieben Leute, aber wir waren eine gute Truppe“, sagt sie im Rückblick, und die Wehmut in ihrer Stimme lässt sich nicht überhören.
An Flucht dachte Mariia Nesterkina zuerst nicht, als sie am 24. Februar die Nachrichten vom russischen Überfall hörte: „Meine Mutter und meine Freunde sind alle in Odessa, was sollte ich da woanders?“ Dann aber schlugen die ersten Raketen auch in Odessa ein, in ihrer Nachbarschaft wurde ein Haus komplett zerstört. Und nach und nach wurde ihr klar, dass sie auch an der Universität nicht in gewohnten Bahnen würde weiterforschen können: Sie hatte viel mit ausländischen Studierenden zu tun, und die blieben von einem Tag auf den anderen aus. „Es ist ein Jammer“, sagt sie: „Unser Universitätsgebäude in Odessa ist von 1868, so lange wird dort schon geforscht. Ich hatte alles, was ich für meine Arbeit brauchte.“ Sie arbeitete zu TRP-Kanälen: Zelluläre Ionenkanäle sind das, und wenn Mariia Nesterkina über ihre Arbeit spricht, dann bringt sie zur Illustration das Beispiel eines Kaugummis: „Da ist Menthol enthalten, und wenn man darauf kaut, hat man das Gefühl einer angenehmen Kühlung“, sagt sie. Genau dafür sind die TRP-Kanäle zuständig, die als Rezeptoren auf das Menthol reagieren. Chilli-Schoten hingegen sorgen für Hitzewallungen im Körper – das ist der gleiche Effekt unter umgekehrten Vorzeichen. Die Rezeptoren für diese Substanzen gibt es nicht nur auf der Zunge, sondern verteilt über den ganzen Körper in der Haut. Und Mariia Nesterkina will diesen Effekt für Medikamente nutzen.
Dass sie auf ihrer Flucht vor dem Krieg nach Deutschland gekommen ist, hängt mit ihren Urlauben in den zurückliegenden Friedensjahren zusammen: „Ich war eigentlich immer im Sommer in Deutschland“, sagt sie: Freunde ihrer Eltern leben in der Nähe von Stuttgart – „und mit denen bin ich auf Tour durch ganz Süddeutschland gegangen. Wir waren in München, Nürnberg und etlichen anderen Städten, das waren großartige Reisen“, erzählt sie. Und diese Freunde luden sie zu sich nach Hause ein, als jetzt die Ukraine überfallen wurde.
Schweren Herzens stieg Mariia Nesterkina in Odessa in den Zug, und eins war ihr gleich klar, als sie nach langer Odyssee in Deutschland ankam: Sie will so schnell wie möglich wieder arbeiten. Und so schaute sie sich nach Jobangeboten in ihrem Bereich um. „Vom HIPS hatte ich zu dieser Zeit noch nie etwas gehört“, sagt sie und schmunzelt: „Ich wusste noch nicht einmal etwas von der Existenz einer Stadt namens Saarbrücken.“ Ein Fehler sei das gewesen, schiebt sie dann schnell hinterher: „Als ich zum ersten Mal in die Labors kam, wusste ich gleich, dass ich genau hier arbeiten will. So ein tolles Team, so eine freundschaftliche Atmosphäre, so viel Hilfsbereitschaft!“ Ganz unkompliziert und mit viel persönlichem Engagement insbesondere von den Professoren Anna Hirsch und Claus-Michael Lehr sei auch die Aufnahme gelaufen. Und Saarbrücken selbst mit seinem multikulturellen Flair und den französischen Einflüssen – das erinnere sie manchmal an Odessa, sagt sie dann: „Da liefen ja auch über Jahrhunderte die verschiedenen kulturellen Einflüsse zusammen.“
Da ist sie wieder, die Wehmut in ihrer Stimme. Eins steht für Mariia Nesterkina schon fest: Sie wird wieder zurückkehren nach Odessa, sobald der Krieg vorbei ist. „Und hier in Saarbrücken will ich bis dahin so viel lernen wie möglich, damit ich das alles mitnehmen kann in die Ukraine!“
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