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Portrait

Unterwegs im Keller des Periodensystems

Bild: ESRF/Molyneux

Die Physikerin Kristina Kvashnina vom Helmholtz-Zentrum Dresden-Rossendorf untersucht sogenannte Actinoide. Ihre Hoffnung: Wenn man mehr über diese Elemente herausbekommt, lassen sich eines Tages radioaktive Abfälle chemisch entschärfen.

Einmal pro Woche kommt der Kurier aus Dresden, für Kristina Kvashnina ist er die wichtigste Verbindung 1.200 Kilometer quer durch Europa. „Sie schicken uns versiegelte Container in speziellen Fahrzeugen, das ist eine logistische Meisterleistung”, sagt die Physikerin. Die Spezialfahrzeuge sind von allen Seiten mit Aufklebern versehen, die vor radioaktiver Strahlung warnen – vor Plutonium, Neptunium, Americium und all den anderen Materialien, denen Kvashnina ihre Geheimnisse entlockt.

Seit mehr als einem Jahrzehnt arbeitet Kristina Kvashnina in Grenoble an der European Synchrotron Radiation Facility (ESRF). Sie leitet dort den Messplatz, den das Helmholtz-Zentrum Dresden-Rossendorf betreibt – „wir kombinieren damit die Vorteile aus beiden Welten“, erklärt sie: „In Dresden gibt es die weltweit besten Labors, in denen Chemiker die Materialien synthetisieren können, mit denen wir arbeiten. Und hier in Grenoble haben wir die perfekte Synchrotron-Strahlenquelle, um sie zu untersuchen.“

Wenn Kvashnina über ihre Forschung spricht, fängt sie meistens von hinten an, vom Ziel her: „Ein zentrales Problem an Atomkraftwerken ist der radioaktive Abfall. An dieser Stelle setzt unsere Arbeit an“, sagt sie: Was also passiert, wenn das Material etwa mit Wasser in Kontakt kommt – wohin wird das Uran transportiert, wie schnell bewegt es sich? „Dazu schauen wir uns die Interaktionen auf atomarer und molekularer Ebene an“, erklärt Kristina Kvashnina. Vom „Keller des Periodensystems“ spricht sie, wenn sie über ihre Forschung erzählt – von den sogenannten Actinoiden, die im Periodensystem tatsächlich ganz unten stehen. Ihre Hoffnung: Wenn man mehr über diese wenig erforschten Elemente herausbekommt, wird es vielleicht eines Tages möglich, die gefährlichen Substanzen durch chemische Reaktionen gewissermaßen zu entschärfen und somit das Problem mit den radioaktiven Abfällen zu lösen.

Die 47-jährige Forscherin stieß auf die Physik, als sie noch zur Schule ging. In Russland war das, in der ländlichen Ural-Region nahe Yekaterinburg. Dorthin zogen ihre Eltern, als sie vier Jahre alt war – geboren wurde sie in der Ukraine. Am Gymnasium fiel sie zum ersten Mal landesweit auf: Bei einem Physikwettbewerb für Schüler belegte sie den dritten Platz – und das von einem normalen Gymnasium aus, nicht von einer der naturwissenschaftlichen Kaderschmieden in Moskau oder Sankt Petersburg. Mit 16 machte die Überfliegerin mit Bestnoten in allen Fächern ihr Abitur und schrieb sich zum Studium an der örtlichen Universität ein. Wieder schloss sie in Rekordzeit und mit Bestnoten ab – und traf eine weitreichende Entscheidung: „Ich hatte keine Lust mehr auf die Theorie, ich wollte experimentieren“, erzählt sie im Rückblick. Und während Russland phantastisch gewesen sei für die theoretische Ausbildung, habe es dort kaum Ausrüstung für Versuche gegeben. Für ihre Promotion ging sie deshalb ins schwedische Upsala, von dort aus reiste sie für Experimente oft nach Berkeley.

Diese Jahre standen am Anfang ihres bislang größten Durchbruchs: „Damals wurde für die Untersuchungen vor allem weiche Röntgenstrahlung genutzt“, erzählt sie: Mit den Strahlen werden die Proben beschossen, um damit ihre verborgenen Eigenschaften sichtbar zu machen. Bald darauf wechselte Kristina Kvashnina nach Grenoble, um ihre Versuche mit harten Röntgenstrahlen zu probieren – „und dann kam ich auf die Idee, einen weiteren Weg zu gehen“, sagt sie: Sie entwickelte eine völlig neuartige Methode, die high energy resolution x-ray spectroscopy. Vereinfacht gesagt, nutzt sie dafür einen mittleren Frequenzbereich der Röntgenstrahlung. „Als ich auf Konferenzen darüber berichtete, konnten die Zuhörer zuerst überhaupt nicht glauben, welche Menge von Daten man mit diesem Ansatz gewinnen kann“, sagt sie und schmunzelt. Heute machen sich Forscher an vielen Synchrotrons auf der ganzen Welt ihre damalige Entdeckung zu Nutze.

Kristina Kvashnina selbst – seit 2015 arbeitet sie für das HZDR in Grenoble – hat inzwischen auch ihre Begeisterung für die Theorie wiederentdeckt. Jeden Tag geht sie zwar in das Labor, das von ihrem Büro aus ein paar Flure entfernt liegt, aber ein wesentlicher Teil ihrer Arbeit spielt sich am Computer ab: Die Messergebnisse speist sie in Tabellen ein, in hochkomplexe Vorhersage-Modelle zum Verhalten der wenig erforschten Materialien dort „am Boden des Periodensystems.“ Stück für Stück, so hofft sie, kommt sie deren Geheimnissen auf die Spur.

Neben der wissenschaftlichen Infrastruktur bietet ihr Grenoble auch einen anderen Vorteil: Dank der französischen Alpen hat sie ähnliche Bedingungen wie früher im Ural – „auch, wenn die höher und steiler sind“, sagt sie. Als Kind war sie einmal pro Woche beim Skifahren. Mit ihren drei Söhnen und ihrem belgischen Mann ist sie auch heute oft auf der Piste. Im Sommer sattelt die Familie auf das Rennrad um.

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