Portrait
Unsichtbares sichtbar machen
Um neue Medikamente entwickeln zu können, ist es wichtig, die Strukturen von Molekülen zu verstehen. Röntgenblitze könnten dabei entscheidend helfen. Dem Physiker Henry Chapman und seinem Team gelangen bereits die ersten bahnbrechenden Durchbrüche.
Dutzende Kolleginnen und Kollegen aus aller Welt umringten ihn, gebannt starrten sie auf die Computerschirme, die anzeigen sollten, was ein paar Meter entfernt in einer gewaltigen Maschine namens Röntgenlicht-Freie-Elektronen-Laser passiert. Dann flackerten auf einmal Muster über die Bildschirme, und Henry Chapman wusste, dass er mit seinen Theorien Recht hatte. „Das war eine riesige Erleichterung damals“, sagt er heute, wenn er auf jenes Experiment im Jahr 2009 zurückblickt. Seitdem erreichte Chapman, der sein Büro im Deutschen Elektronen-Synchrotron (DESY) in Hamburg hat, noch weitere bahnbrechende Durchbrüche. Kristallographie heißt die Disziplin, in der er arbeitet. Das Ziel: Sichtbar machen, was unsichtbar ist.
„Um die Struktur von Molekülen zu verstehen, muss man wissen, wie die einzelnen Atome angeordnet sind“, sagt der Brite, dessen Englisch seine Zeit in Australien bezeugt. „Dazu braucht man Licht mit sehr kurzer Wellenlänge, also Röntgenstrahlen.“ Die allerdings sind so energiereich und intensiv, dass sie viele Moleküle zerstören. „Das ist so ähnlich, als hätten wir eine geheime Botschaft auf einem Papier“, erklärt Henry Chapman und schmunzelt: „Um sie zu lesen, müssen wir das Licht anmachen – aber leider ist die Botschaft lichtempfindlich und wird dabei sofort zerstört.“ Fast seine gesamte Forscherkarriere beschäftigt er sich mit der Frage, wie sich die geheimen Buchstaben trotzdem lesen lassen.
Dieses Streubild war immer da, aber niemand hat ihm Beachtung geschenkt
Wenn das gelingt, öffnet das ungeahnte Möglichkeiten: Das Wissen um die räumliche Struktur eines Moleküls hilft beispielsweise bei der Entwicklung neuer Medikamente. Irgendwann, so hofft Henry Chapman, könnte man mit den immer besseren Geräten vielleicht sogar die chemischen Reaktionen beobachten, die ablaufen, wenn Proteine aufeinandertreffen.
Solche Hoffnungen scheinen durchaus berechtigt, denn der Physiker ist mit seinem Team aus Biochemikern, Mathematikern und Computerexperten seit jenem denkwürdigen Tag im kalifornischen Palo Alto immer weiter in die Geheimnisse der Moleküle vorgedrungen. Dafür benutzt er einen Umweg: Unter dem speziellen Röntgengerät betrachtet er nicht einzelne Moleküle, sondern konzentriert sich auf Kristalle, die aus den Molekülen gezüchtet werden – und deren Struktur preisgeben.
Diese Methode wird schon länger genutzt. Das Problem allerdings war stets, dass sich aus manchen Molekülen nur kleine, schlecht geordnete Kristalle züchten ließen, die kaum Rückschlüsse auf das Molekül zulassen – „so zumindest dachten Forscher bisher“, sagt Henry Chapman. „Wir haben herausgefunden, dass auch das schwache Streubild, das selbst die unordentlichen Kristalle abgeben, viel über die Molekülstruktur verrät. Dieses Streubild war die ganze Zeit da, aber niemand hat ihm Beachtung geschenkt, es galt eher als störender Untergrund.“
Mit komplexen Algorithmen konnte er diese Streubilder entschlüsseln. Inzwischen ist bei DESY ein neuer Röntgenlaser im Einsatz, der so viele Aufnahmen aus dem Innern der Kristalle erzeugt, dass gewaltige Datenmengen analysiert werden müssen – die nächste Herausforderung für Chapman und sein Team.
Und, stehen sie Schlange vor seinem Büro, die Biologen, die ihre speziellen Moleküle analysiert haben möchten? Chapman winkt ab. „Wir sind nicht interessiert daran, massenhaft Moleküle zu analysieren, das können mittlerweile viele. Wir kümmern uns um die, die ein scheinbar unlösbares Problem bei der Analyse haben.“ Für Geheimschriften solcher Art ist Chapman inzwischen ja Experte.
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Neue Methode könnte Proteinforschung deutlich beschleunigen (Interview mit H. Chapman)
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