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Helmholtz International Lab

Unser Gehirn verstehen

Katrin Amunts und Alan Evans arbeiten bereits seit den 1990er Jahren erfolgreich zusammen. (Bild: Christian Kielmann)

Mit BigBrain haben sie das detaillierteste digitale Modell des menschlichen Gehirns erstellt. Mit HIBALL gehen sie jetzt den nächsten Schritt. Im Interview erzählen Katrin Amunts vom Forschungszentrum Jülich und Alan Evans von der McGill University, wie sie den Geheimnissen des Gehirns näherkommen.

Worum geht es bei Ihrem Projekt HIBALL?

Katrin Amunts: HIBALL steht für Helmholtz International BigBrain Analytics and Learning Laboratory. Es ist ein International Lab der Helmholtz-Gemeinschaft zwischen dem Forschungszentrum Jülich und der McGill University im kanadischen Montreal. Wie der Name schon vermuten lässt, ist HIBALL die Fortführung unseres gemeinsamen BigBrain Projekts. Dieses ultrahochauflösende Modell des menschlichen Gehirns, das wir vor mehr als 10 Jahren gemeinsam entwickelt haben, erweitern wir nun um Informationen zur Verknüpfung der Zellen und ihrer molekularen Eigenschaften. Bei der enormen Menge an Daten, mit der wir arbeiten, verwenden wir mehr und mehr Werkzeuge aus dem Bereich der künstlichen Intelligenz. Jedoch auch umgekehrt – wie kann es uns gelingen, um dieses Gehirnmodell herum neue KI-Tools zu entwickeln, die sich an der Architektur des Gehirns orientieren?

Alan Evans: Manche Forscher betrachten das Gehirn auf der Ebene der Mikroschaltkreise. Das ist sehr wichtig. Aber ich interessiere mich mehr für die gesamte Organisation des Gehirns und dafür, wie es als Ganzes funktioniert. Großflächige Regionen „sprechen“ miteinander und charakterisieren damit die Systemebene des menschlichen Gehirns. Im Rahmen des HIBALL-Projekts bringen wir all diese verschiedenen räumlichen Maßstäbe von Molekülen über einzelne Nervenzellen bis hin zur Hirnregion zusammen, um zu verstehen, wie das Gehirn funktioniert. Und wir erforschen, wie wir von einem Maßstab zum nächsthöheren übergehen. Das ist ein faszinierendes Problem.

Gemeinsam mit Katrin Amunts bringt Alan Evans in HIBALL Menschen aus vielen verschiedene Disziplinen zusammen. (Bild: Christian Kielmann)

Wie haben Sie die Daten gesammelt?

Katrin Amunts: Wir arbeiten seit mehr als zehn Jahren an diesem Projekt. Der erste Schritt war, von einem kompletten postmortem Gehirn 7.404 Schnitte anzufertigen, sie zu färben und dann wieder zu rekonstruieren. Zu Beginn war überhaupt noch nicht klar, wie das gelingen kann, denn es gab noch keine Methoden, ein Gehirn mit einer Auflösung von 20 tausendstel Millimeter drei-dimensional zu rekonstruieren. Es dauerte einige Jahre, alleine all die Schnitte zu digitalisieren. Die Rekonstruktion war ein großer Schritt, denn der ursprüngliche Datensatz war ein Terabyte groß – zur damaligen Zeit einfach riesig. Und daraus haben wir nicht nur gemeinsam eine 3-D-Rekonstruktion des Gehirns erstellt, sondern diese der wissenschaftlichen Gemeinschaft auch zur Verfügung gestellt.

Und wird es genutzt?

Katrin Amunts: Forscher weltweit nutzen es. Ein Kollege in Marseille hat damit zum Beispiel individuelle Gehirnmodelle von Patienten verbessert, die wegen Epilepsie operiert werden. Solche Modelle werden zunehmend zu einem wichtigen Werkzeug für den Chirurgen, um besser abzuwägen, wo und wieviel Gewebe entnommen werden soll. Wird zu viel um den epileptischen Herd entfernt, hat der Patient vielleicht ein neurologisches Defizit. Wird zu wenig entfernt, bleiben möglicherweise die epileptischen Anfälle bestehen. Mit dem BigBrain kann der Chirurg Informationen zur Verteilung der Nervenzellen in ein mathematisches Hirnmodell integrieren, das außerdem mit den Daten seiner Patienten angereichert wird – damit erhält man ein personalisiertes Modell.

Und jetzt kommt HIBALL ins Spiel?

Alan Evans: Richtig. HIBALL ist das nächste Kapitel. Während das BigBrain die Verteilung und Architektur der Zellen im Gehirn zeigt, fügen wir mit HIBALL fügen wir weitere Daten hinzu. Wir schauen uns jetzt auch die Chemie des Gehirns an, die sehr wichtig für die Weiterleitung der Signale von einer Zelle auf die andere ist. Außerdem analysieren wir die Konnektivität, das heißt die Verbindungsstruktur des Gehirns. Wir kombinieren somit sehr viele verschiedene Arten von Informationen. Das ist so ähnlich wie Google Earth. Da kann man über die Karte der Erde zum Beispiel Landesgrenzen, Straßen oder Vegetationszonen einblenden. Die daraus gezogenen Schlüsse sind verschieden, aber man hat immer noch den gleichen Planeten als Vorlage. Und dann nutzen wir Werkzeuge wie künstliche Intelligenz, um all diese Daten zu untersuchen, und in Wissen zu verwandeln.

Katrin Amunts ist Direktorin und Leiterin der Arbeitsgruppe "Architecture and Brain Function" am Forschungszentrum Jülich. Das mit BigBrain hochaufgelöste digitale Modell des menschlichen Gehirns wird von Forschern auf der ganzen Welt genutzt. (Bild: Christian Kielmann)

Was für KI-Werkzeuge sind das denn zum Beispiel?

Katrin Amunts: Beispielsweise nutzen wir Deep Learning, um die Hirnregionen im BigBrain zu identifizieren. Dazu trainieren wir einen KI-Algorithmus darauf, die einzelnen Zellen des Gehirns zu erkennen. Denn uns interessiert, wie die Zellen verteilt sind. Das ist charakteristisch für jede Hirnregion und wir erforschen dann, was das mit der Funktion einer dieser Gehirnregion zu tun hat. Deep Learning hilft uns also, solche Fragen zu stellen und das BigBrain bis ins Detail zu charakterisieren. Andererseits erfahren wir durch das BigBrain aber auch, wie die Zellen und ihre Netzwerke in unserem menschlichen Gehirn organisiert sind. Diese natürlichen Netzwerke haben viele Stärken. Wir Menschen erkennen zum Beispiel sehr gut Gesichter, selbst, wenn sie teilweise verdeckt oder verändert sind. Künstliche neuronale Netze haben mitunter große Schwierigkeiten, unter solchen Bedingungen Gesichter richtig zuzuordnen. Wir wollen nun wissen, welche spezifischen Eigenschaften unserer natürlichen Netzwerke im Gehirn auf diesem Gebiet so leistungsfähig machen. Auf der anderen Seite ist unser Gehirn nicht besonders schnell darin, zwei sehr große Zahlen miteinander zu multiplizieren – das kann ein Computer um ein Vielfaches schneller. Warum ist das so? Daraus wollen wir lernen, nach welchen Regeln das Gehirn funktioniert, aber auch, wie man leistungsfähigere künstliche neuronale Netze bauen kann. HIBALL ist also wirklich der nächste Schritt nach dem BigBrain.

Das klingt nach einer Aufgabe, für ein multidisziplinäres Team.

Alan Evans: Das ist richtig. HIBALL ist zum Beispiel auch Big Data. Es ist ein Projekt, das Menschen aus vielen verschiedenen Disziplinen zusammenbringt: Informatiker, Mathematiker, Neuroanatomen, Neurologen, kognitive Neurowissenschaftler, KI-Fachleute. Sie alle sind Teil des Projekts und man braucht sie auch alle. Es handelt sich nicht mehr um eine deskriptive Wissenschaft, die nur beschreibt. Es handelt sich vielmehr um eine quantitative Wissenschaft. Das bedeutet, dass die gesamte Maschinerie der Datenwissenschaft zum Einsatz kommen muss, um die Konnektivität im Gehirn zu verstehen. Und um zu verstehen, wie sie sich während der Entwicklung verändert. Und wie sie bei Krankheiten zusammenbricht. Die große Freude und auch der Anspruch für Katrin und mich besteht darin, diese „Menagerie“ zusammenzuhalten und dafür zu sorgen, dass sie alle im Team in dieselbe Richtung blicken. Zum Glück arbeiten wir mit Kollegen zusammen, die sowohl wissenschaftlich exzellent als auch tolle Menschen sind. Wir haben viel Spaß miteinander. Und das macht den großen Unterschied bei einem internationalen Projekt aus, bei dem man räumlich getrennt voneinander zusammenarbeiten muss.

Und Sie beide? Was ist Ihr wissenschaftlicher Hintergrund?

Alan Evans: Ich betrachte mich selbst als eine Art verstoßener Physiker. [lacht] Ich habe vor langer Zeit eine Ausbildung in Mathematik und Physik absolviert und in Proteinkristallographie promoviert, um Struktur und Funktion von Proteinen zu untersuchen. Und irgendwie bin ich dann auf die Struktur und Funktion des menschlichen Gehirns gestoßen, die sich um 10 Größenordnungen unterscheiden.

Katrin Amunts: Ich habe einen anderen Hintergrund. Ich habe Medizin und Biophysik studiert. Später habe ich mich dann mehr auf das Gehirn konzentriert und Bildanalyse genutzt, um die Beziehung zwischen Gehirnstruktur und Gehirnfunktion zu erfassen.

Das Gehirn ist für Sie beide zur Lebensaufgabe geworden. Was fasziniert Sie daran am meisten?

Alan Evans: Schon als ich 10 Jahre alt war, haben mich menschliches Gehirn und Gedächtnis fasziniert. Ich erinnere mich, dass ich darüber im Scientific American gelesen habe. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal am Montreal Neurological Institute an der Seite einer Gigantin wie Brenda Milner arbeiten würde, die zu den der führenden Köpfen auf unserem Gebiet gehört. Früher war die beschreibende Charakterisierung des Gehirns nach Regionen wissenschaftlicher Standard. Dann gingen wir zu einem Modell des Gehirns über, das sich mit den Verbindungen zwischen diesen Regionen befasst. Das hat unsere Vorstellung vom Gehirn verändert. Ich will nun einen Schritt weitergehen. Ich will wissen, was der ideale räumliche Maßstab ist, um die Organisation des menschlichen Gehirns zu verstehen.

Katrin Amunts: Ich wollte zu Beginn meiner Laufbahn insbesondere verstehen, wie das Gehirn zu unseren Bewegungen und zur Sprache beiträgt. Wie ist sie im menschlichen Gehirn organisiert um solch komplexe Funktionen zu ermöglichen? Warum können wir sprechen und andere nicht? Davon war ich von Anfang an fasziniert. Ich habe Bereiche in der Sprachregion des Gehirns kartiert und erkannt, dass die Komplexität des Gehirns mit seiner Organisation auf mehreren Ebenen zusammenhängt. Und ich möchte verstehen, wie man Vorhersagen von einer Ebene zur anderen machen kann. Betrachten wir eine bestimmte zelluläre Architektur: Was bedeutet sie für die Funktion? Was bedeutet sie für die Funktion in einem riesigen Netzwerk? Was bedeutet es für einen Patienten, wenn diese Region zum Beispiel durch einen Infarkt beschädigt ist? Ich bin sehr daran interessiert, zu verstehen, wie man die Brücken zwischen den verschiedenen Skalen schlägt. Und es ist in der Tat so: Je mehr man lernt, desto mehr erkennt man, wie viel noch fehlt. Und gerade das macht die Hirnforschung auch so spannend.

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Besonders intensiv arbeiten wir in den Helmholtz International Labs mit unseren Partnern im Ausland zusammen. Diese Forschungsprojekte widmen sich stets hochinnovativen und zukunftsweisenden Forschungsthemen. Mehr dazu hier.

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