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MOSAiC-Expedition

Uhrwerk Arktis

Bild: AWI/Lianna Nixon

Wissenschaftler aus 20 Nationen haben sich im Eis des Arktischen Ozeans einfrieren lassen und sind ein Jahr lang mit den Eismassen über das Meer gedriftet. Auf der MOSAiC-Expedition haben sie die Nordpolregion zu jeder Jahreszeit aus allen denkbaren Perspektiven erforscht – und haben Einblicke mitgebracht, wie sie zuvor noch nie jemand gewinnen konnte.

Bild: AWI/ESther Horvath

Für die meisten Menschen bietet der erste Blick morgens aus dem Fenster kaum Überraschungen. Das Wetter ist in etwa wie angekündigt. Vielleicht trägt der Baum im Garten erste Blüten oder am Haus gegenüber ragt ein Baugerüst in die Höhe, aber ansonsten sieht alles so aus wie am Tag zuvor. Am Nordpol gibt es diese beruhigende Gewissheit nicht: Den Teilnehmern der MOSAiC-Expedition eröffneten sich morgens auf der Brücke des Forschungseisbrechers Polarstern immer wieder neue Rundumblicke: wenn sich über Nacht direkt vor dem Bug ein meterbreiter Spalt im Eis geöffnet hat, wenn ein heftiger Sturm ebendiesen Spalt kurze Zeit später zu einem mächtigen Eisrücken zusammengeschoben hat, oder wenn Teile ihres Forschungscamps an eine kaum erreichbare Stelle weggedriftet sind. So schwer ihnen die Arktis den Alltag auch macht, waren sie doch hergekommen, um genau diese Phänomene zu erforschen, die sich sonst in der Polarnacht im Verborgenen abspielen.

Nie zuvor hat es eine so große Forschungsexpedition in die Arktis gegeben. Eingefroren im arktischen Meereis verbrachten 300 Wissenschaftler mehr als ein Jahr auf dem Eisbrecher, aufgeteilt auf fünf Etappen. Auf einer 2,5 mal 3,5 Kilometer großen Eisscholle errichteten sie Messstationen, die sie mit Wegen für Motorschlitten und Stromleitungen zu einer richtigen kleinen Forschungsstadt verknüpften. Einige Ausläufer ihrer Siedlung verteilten sie für autonome Messungen in einem Umkreis von 50 Kilometern. Sechs weitere Eisbrecher und Forschungsschiffe stellten die Versorgung der Expedition und den Austausch der Crew sicher.

Das vorläufige Finale erlebten sie Ende Juli 2020, als sie nur noch wenige Kilometer vom offenen Ozean trennen. „Unter lautem Knallen ist unsere Scholle in viele Einzelteile zerbrochen. Sie hat uns 1.700 Kilometer durch das Nordpolarmeer getragen, von der Laptewsee vorbei am Nordpol bis in die Framstraße. Hier beendet sie nun ihren natürlichen Lebenszyklus“, erinnert sich der Atmosphärenphysiker Markus Rex an jenen Moment, als sich die Welt aus Schnee und Eis um ihm herum auflöste. Der Wissenschaftler vom Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI), leitet das MOSAiC-Projekt und war den größten Teil der Expedition selbst an Bord. Über 300 Tage ist es her, als er die ersten Schritte auf dieser Eisscholle machte, um sie mit einem kleinen Team zu erkunden.

„Ganz vereinfacht gesagt, ist es in etwa so, als würde jemand eine mechanische Uhr finden und nun versuchen, detailgetreu zu verstehen, wie sie funktioniert.“

Bild: AWI/Lianna Nixon

Es war eine der letzten Gelegenheiten, zu denen eine solche Expedition überhaupt noch möglich ist: Keine andere Region des Planeten heizt sich so schnell auf wie die Arktis. Gleichzeitig ist die Region um den Nordpol ein nahezu blinder Fleck in der Klimaforschung. Insbesondere aus dem Winter gibt es kaum Messdaten. Die MOSAiC-Expedition soll das nun ändern. „Ganz vereinfacht gesagt, ist es in etwa so, als würde jemand eine mechanische Uhr finden und nun versuchen, detailgetreu zu verstehen, wie sie funktioniert“, sagt Markus Rex: „Es ist nicht besonders überraschend, was sich im Uhrengehäuse befindet. Aber wie wirken alle Zahnräder, Schrauben und Häkchen zusammen, sodass die Uhr am Ende die Zeit anzeigt? Und was passiert, wenn sich eines dieser Teile anders verhält als sonst? Nur wer das versteht, kann später selbst eine Uhr nachbauen.“

Genau darum ging es bei MOSAiC – nur dass die Wissenschaftler kein Uhrwerk nachbauen, sondern das Klimasystem der Zentralarktis durchschauen wollen. Dazu haben sie insgesamt 100 Parameter gemessen, der technische Aufwand dazu war gewaltig: Fesselballons kamen zum Einsatz, Tauchroboter, Laserstrahlen, Drohnen, elektromagnetische Sensoren, Satelliten, ein 30 Meter hohen Messturm und Unterwassersonden. Sie haben den vertikalen Wärmehaushalt entlang der Driftroute erfasst und gemessen, wie sich Energie in Form von Licht und Wärmestrahlung ausbreitet, getragen von kleinsten Verwirbelungen im Wasser und in der Luft. Sie haben ermittelt, wie Wärme aus dem Ozean durch das Eis und den Schnee geleitet wird und die Oberfläche erwärmt. Ihre Messungen reichen von dem 4.000 Meter tiefen Meeresgrund bis 35.000 Meter hoch in die Stratosphäre. Sie haben erfasst, wie die Wolken mit dem Licht der Sonne interagieren. Sie haben das Leben im Arktischen Ozean beobachtet. Und sie haben untersucht, was passiert, wenn die Schicht aus Eis und Schnee Risse bekommt.

Stefanie Arndt. Bild: AWI/Michael Gutsche

Alle paar Monate wechselten sich die Wissenschaftler ab, um diese Mammutaufgabe zu lösen. Eine von ihnen ist Stefanie Arndt vom AWI, die zum Ende der Polarnacht im Februar mit einem russischen Versorgungseisbrecher an der Eisscholle ankam, um die Eigenschaften des Schnees zu erforschen. Während sich die Sonne langsam wieder den Horizont hochschraubte, wanderte Stefanie Arndt einmal pro Woche eine festgelegte Strecke über die Scholle ab. Mit einer Schneesonde maß sie unterwegs alle zwei Meter Änderungen der Schneedicke. Einmal stieß sie dabei auf Spuren, die von dem ersten Forscherteam stammen mussten, das im Herbst das Forschungscamp aufbaute. Die Spuren waren noch deutlich zu erkennen, obwohl es seitdem immer wieder geschneit hatte. „Wenn hier oben Schnee fällt, verteilt er sich scheinbar nicht gleichmäßig über die Fläche“, folgert die Wissenschaftlerin daraus, „sondern er wird sofort durch den Wind verbreitet und sammelt sich dort an, wo es eine besondere Topografie gibt – also bei den Eisrücken oder auf frischen Eisflächen in Eisrinnen. Das hatte vorher noch nie jemand im zentralarktischen Winter beobachtet.“

Es ist eine von vielen Beobachtung, mit denen die Klimamodelle präziser werden dürften, denn bisher haben die Wissenschaftler die Schneedicke nur im Sommer vor Ort messen können und sich im Winter auf autonome Schneebojen verlassen. Doch ihre Bojen haben sie immer auf einer ebenen Fläche ausgebracht. Die gesendeten Daten waren somit nicht repräsentativ für das Schneevolumen in einer Arktis, die immer weniger von ebenen Flächen geprägt ist, sondern zunehmend von einer dynamischen Topografie. Was diese Dynamik bedeutet, sah Stefanie Arndt auch, als sie zweimal pro Woche dabei half, einen Unterwasserroboter zu steuern. Mit Kameras ausgestattet erlaubt er beeindruckende Blicke unter die Eisscholle. „Selbst an Stellen, an denen das Eis an der Oberfläche eben ist, bilden sich an der Unterseite ganze Höhlensysteme. Die sehen aus wie eine Mondlandschaft, die auf dem Kopf gestellt wurde“, sagt die Bremerhavener Wissenschaftlerin. An den Kameras schwimmen auch immer wieder kleine Krebstiere, Quallen, Fische und einmal sogar eine Robbe vorbei. Selbst in der Polarnacht lebt der Arktische Ozean.

„Für mich ist eine der zentralen Fragen, wie tief das Ökosystem in der Polarnacht schläft und was es anschließend mit der Rückkehr des Lichts zum Aufwachen braucht.“

Clara Hoppe. Bild: Wolf Lux

Einige hundert Meter entfernt von dem Tauchroboter arbeitete Clara Hoppe in dem Teil des Forschungscamps, den die Wissenschaftler Ocean City getauft haben. Durch ein Loch im Eis zapfte die Biologin vom AWI regelmäßig mit einem Wasserschöpfer Proben aus dem Ozean. Ihre Aufmerksamkeit gilt den Algen, die zu klein für Kameras sind, deren Bedeutung aber enorm ist. „Algen im Eis und im Wasser sind die einzigen Primärproduzenten in der Zentralarktis“, sagt Clara Hoppe. Das heißt, sie nutzen das Sonnenlicht und betreiben Photosynthese. So erzeugen sie aus anorganischen Stoffen neue Biomasse. „Dadurch bilden sie die Basis des gesamten Nahrungsnetzes in der Nordpolregion. Krebstierchen, Fische, Seehunde und Eisbären hängen letztendlich alle von diesen Algen ab“, sagt Clara Hoppe. Sie untersucht schon seit vielen Jahren Kleinstlebewesen in den Gewässern rund um Spitzbergen. Doch niemand weiß genau, ob die Organismen wirklich das ganze Jahr über dort sind oder regelmäßig vom Nordatlantik aus dort hochgetrieben werden. In der Zentralarktis konnte Clara Hoppe nun zum ersten Mal ein Ökosystem untersuchen, das mit Sicherheit den gesamten Winter über dort ist. „Für mich ist eine der zentralen Fragen, wie tief das Ökosystem in der Polarnacht schläft und was es anschließend mit der Rückkehr des Lichts zum Aufwachen braucht – wenn es denn überhaupt aufwachen muss. Erste Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Algen gar nicht richtig schlafen, sondern die ganze Zeit bereit sind, Licht zu empfangen“, sagt Clara Hoppe. Die Biomasse misst sie unter anderem anhand der Chlorophyllkonzentration im Wasser. Die geht im Winter nicht so sehr zurück wie erwartet, was darauf hindeutet, dass die Algen die Polarnacht im Wasser überleben. Die AWI-Forscherin und ihre Kollegen haben Tausende Proben aus dem Ozean von der Expedition in ihre heimischen Labors mitgebracht – sie alle zu untersuchen und auszuwerten, ist eine jahrelange Arbeit, von der auch Wissenschaftler profitieren werden, die nicht mit an Bord waren. Die Proben sollen einmal detailliert darüber Auskunft geben, wie das sensible Ökosystem in der Region um den Nordpol funktioniert und welchen Veränderungen die dortigen Lebewesen durch den Klimawandel ausgesetzt sind.

„Mit unseren unzähligen Beobachtungen werden wir nun in der Lage sein, die komplexen Wechselwirkungen im Klimasystem zwischen Atmosphäre, Eis und Ozean besser in Klimamodellen darzustellen.“

Bild: AWI/Lianna Nixon

In den letzten Lebenstagen der Eisscholle schließlich, kurz bevor sie nach dem Ende der Drift wieder zu Wasser wurde, blickte Markus Rex auf das vergangene Jahr zurück. Ihm ist die Begeisterung anzumerken: „Ich bin überwältigt davon, dass das Konzept von MOSAiC aufgegangen ist“, sagt er. „Mit unseren unzähligen Beobachtungen werden wir nun in der Lage sein, die komplexen Wechselwirkungen im Klimasystem zwischen Atmosphäre, Eis und Ozean besser in Klimamodellen darzustellen. Schon bald bekommen wir dadurch ein deutlich klareres Bild, welche Auswirkungen die Erwärmung der Arktis auf das globale Klima hat“, fasst der Expeditionsleiter zusammen.

Dann brach er noch einmal mit seinem Team auf, um das letzte Puzzlestück im Jahresverlauf zu finden, das ihnen noch fehlt: Ganz weit im Norden dockten sie im Spätsommer ein zweites Mal an einer Scholle an und beobachteten, wie sich um sie herum neues Eis bildete. Ein neuer Zyklus beginnt. Was danach in der Polarnacht am Nordpol passiert, wird dank der MOSAiC-Daten künftig weitaus weniger im Verborgenen liegen.

Die MOSAiC-Expedition

Während der MOSAiC-Expedition erforschten Wissenschaftler aus 20 Nationen die Arktis im Jahresverlauf. Von September 2019 bis Oktober 2020 driftete der deutsche Eisbrecher „Polarstern“ eingefroren im Eis durch das Nordpolarmeer. MOSAiC wurde unter Leitung des Alfred-Wegener-Instituts Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) realisiert. Damit dieses einzigartige Projekt gelang, arbeiteten über 80 Forschungsinstitute zusammen.

Kamerateams der UFA dokumentierten die Expedition von Beginn an. Am 16. November wurde der Dokumentarfilm „Expedition Arktis“ in der ARD ausgestrahlt. Wer die TV-Dokumentation verpasst hat, kann sie in der ARD-Mediathek anschauen.

Link zum Film in der ARD-Mediathek

Informationen zur MOSAiC-Expedition auf der AWI-Website

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