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Quantenjahr 2025

Teil #04: Neutrinos – Chamäleons auf der Waage

Sie sind superleicht, fliegen in Massen durchs Universum und durch uns hindurch und sind doch kaum zu fassen: In unserer vierten Folge zum Quantenjahr heften wir uns mit Kathrin Valerius vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) an die Fersen der unscheinbaren Neutrinos.

Als sich die Physik vor 100 Jahren mit der Entwicklung der Quantenmechanik neu erfand, eröffneten sich den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ganz neue Welten. Erst der Welle-Teilchen-Dualismus, die Schrödinger-Gleichung und die Heisenbergsche Unschärferelation zur Beschreibung der Physik der Atome. Dann mit der Entwicklung der Dirac-Gleichung unter Einbeziehung der speziellen Relativitätstheorie die Vorhersage der Antimaterie, die sich mitunter leicht erzeugen lässt, aber in unserer Welt aus Materie nicht lange Bestand hat. Und Schlag auf Schlag ging es weiter: Zu den bekannten Teilchen wie den Elektronen, Protonen und Neutronen gesellten sich in den Experimenten weitere, bisher unbekannte – ein ganzer Teilchenzoo. Darunter ein unscheinbares, von dem unser Universum nur so angefüllt ist: das Neutrino.

„Es ist das zweithäufigste Teilchen im Universum gleich nach dem Photon, dem Träger des Lichts“, erklärt Kathrin Valerius vom KIT. Etwa 330 von ihnen stecken im Mittel in jedem Kubikzentimeter des Universums. Allein unsere Sonne produziert mehr als 10^39 Neutrinos pro Sekunde, von denen ein Teil nach etwa acht Minuten unsere Erde erreicht. „Davon wiederum durchqueren Hundert Milliarden sekündlich die Fingerkuppe unseres Zeigefingers.“ Im wahrsten Sinne des Wortes unfassbar, weshalb merken wir davon nichts? „Weil sie elektrisch neutral sind und nur schwach mit anderen Elementarteilchen wechselwirken, und deshalb eben auch mit uns kaum“, erklärt Valerius. Kaum verwunderlich, dass es knapp fünfundzwanzig Jahre dauern sollte, bis sie nach der theoretischen Vorhersage durch Wolfgang Pauli und Enrico Fermi experimentell Mitte der 1950er Jahre nachgewiesen wurden.

„Heute wissen wir: Es gibt drei Sorten von Neutrinos“, sagt Kathrin Valerius, „doch lange war unklar, ob sie eine Masse haben oder nicht.“ Inzwischen weiß man auch das. Und damit verbunden ist die Auflösung eines fundamentalen Rätsels der Astroteilchenphysik der letzten Jahre: das solare Neutrinoproblem. „Denn die in den Kernfusionsprozessen der Sonne produzierten Neutrinos, die nach ihrem Weg durch das Weltall in unseren Detektoren gemessen wurden, stimmten nicht mit den Erwartungswerten aus dem Sonnenmodell überein.“ Erst später zeigte sich, dass sich die Neutrinos einer Teilchensorte auf ihrem Weg von der Sonne zur Erde in eine der anderen beiden umwandeln können, dass sie quantenmechanisch zwischen den Zuständen oszillieren. „Wenn jedoch sämtliche drei Sorten der Sonnenneutrinos vermessen werden, findet sich eine sehr gute Übereinstimmung zwischen dem gemessenen Neutrinofluss und der Modellvorhersage“, erklärt Kathrin Valerius. Diese Neutrino-Oszillation lässt sich zwar quantenmechanisch erklären. „Allerdings nur“, wendet Valerius ein, „wenn die Neutrinos über eine Masse verfügen. Sie sind die Chamäleons im Standardmodell.“ Und absolute Leichtgewichte. Denn wenn sie eine Masse haben, muss sie superklein sein. Trotzdem kommt ihnen laut Valerius eine entscheidende Rolle im Universum zu, da sie als ‘kosmische Architekten‘ die Ausbildung großer kosmischer Strukturen, die wir heute beobachten, mitgeprägt haben.

Doch welche Masse bringen die Neutrinos auf die Waage? „Um das herauszubekommen, haben wir das Karlsruhe Tritium Neutrino Experiment gebaut, kurz KATRIN.“ Die Großforschungsanlage am KIT, die in internationaler Kollaboration  betrieben wird, umfasst auf einer Gesamtlänge von circa 70 Metern eine ultrareine gasförmige Tritiumquelle und ein riesiges Massenspektrometer von 10 Metern Durchmesser. „Mit KATRIN lassen sich erstmals direkte Obergrenzen im sogenannten Sub-Elektronenvolt-Bereich bestimmen“, sagt Valerius. „Und diese Messungen benötigen keine Modellannahmen über die Natur der Neutrinos oder über die Bestandteile des kosmologischen Standardmodells und so weiter.“ Bei KATRIN kommen modernste Quantentechnologien in der Sensorik zum Einsatz. Spätestens seit KATRIN steht fest: Im Vergleich zu anderen Elementarteilchen haben Neutrinos unvorstellbar kleine Massen. „Dank brandaktueller Ergebnisse von KATRIN wissen wir jetzt: Die Neutrinos sind mindestens eine Million Mal leichter als Elektronen.“ Also für teilchenphysikalische Verhältnisse extrem leicht, doch ihre winzige Masse ist entscheidend für das Verständnis fundamentaler physikalischer Prozesse im Universum.

So stehen die Neutrinos womöglich auch für einen der größten Symmetriebrüche aller Zeiten. Denn kurz nach dem Urknall muss es in dem ultraheißen Ur-Universum aus Materie und Antimaterie zu einem winzig kleinen Überschuss von Materie gekommen sein, der seiner Auslöschung durch Antimaterie entgehen konnte – was heute die beobachtbare Materie in unserem Universum ausmacht, inklusive uns Menschen. Doch was ist für dieses winzige Ungleichgewicht zwischen Materie und Antimaterie in den ersten Sekunden des Universums verantwortlich? „Wir glauben, dass dabei Neutrinos eine wesentliche Rolle gespielt haben könnten. Zum Beispiel, wenn sie mit ihren Antiteilchen identisch wären und dadurch teilchenphysikalische Prozesse ermöglichen, die bestimmte Quantenzahlen verletzen.“

Könnten Neutrinos auch hinter dem Rätsel der Dunklen Materie stecken? „Die Dunkle Materie macht über 80 Prozent aller Materie im Universum aus. Also knapp ein Viertel der gesamten Energiedichte des Kosmos. Und wir haben bisher keinen eindeutigen Hinweis, woraus diese Dunkle Materie besteht“, sagt Valerius. „Die uns bisher bekannten Neutrinos erfüllen Teilcheneigenschaften, die wir der Dunklen Materie zuschreiben.“ Sie sind jedoch zu leicht, um daran den maßgeblichen Anteil zu bilden. „Aber hypothetische superschwere Neutrinos, sogenannte ‚Sterile Neutrinos‘, könnten ein möglicher Kandidat zur Erklärung der Dunklen Materie sein.“ Weshalb in einer kommenden zweiten Messphase des KATRIN-Experiments ein Ziel sein wird, nach diesen Sterilen Neutrinos zu suchen. „Mit dem geplanten Upgrade des KATRIN-Detektors werden wir also der Frage nachgehen: Gibt es mehr als drei Neutrinosorten? Finden wir in den KATRIN-Messungen Hinweise auf eine Physik jenseits des Standardmodells, zum Beispiel auf neuartige Wechselwirkungsformen?“ Ein Hinweis darauf wäre zweifellos nach der Quantenmechanik, der Quantenfeldtheorie und der Quantenkontrolle (siehe Folgen #01, #02 und #03) der Beginn einer weiteren großen Quantenrevolution nach diesen ersten hundert Jahren Quantenphysik. Bleiben Sie dran!

Serie zum Quantenjahr 2025

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