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Portrait

Spurensucherin in den Klimaarchiven der Erde

Ulrike Herzschuh im Sommer 2016 in der Region Chukotka. Bild: Evgenii Zakharov

Ulrike Herzschuh blickt tief in die Erdgeschichte zurück, auch um Voraussagen darüber zu machen, wie der Klimawandel unsere Ökosysteme künftig verändern wird. Für ihre Forschung wurde die Polarbiologin mit dem renommierten Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis ausgezeichnet.

Als das Flugzeug zur Landung ansetzte, schaute Ulrike Herzschuh wie gebannt aus dem Fenster: „Diese Landschaft ist der Wahnsinn“, sagt sie. Nach Jakutsien, im fernen Osten Russlands, führte sie ihre erste Expedition als Forscherin am Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI), und das Flugzeug flog vor der Landung in Jakutsk eine Schleife über den Fluss Lena. „Der überflutet dort jedes Jahr riesige Flächen des Landes. Diese Kraft der Natur zu sehen, das war eindrucksvoll.“ Lange Zeit war sie dort in der Permafrost-Region unterwegs, um Klimaveränderungen zu erforschen: Mit dem Hubschrauber wurde ihr Team an einem entlegenen Ort abgesetzt, sie bauten ein Feldcamp auf, sammelten Pflanzen und nahmen Sedimentbohrkerne aus Seen; nach zwei Wochen brachte der Hubschrauber sie an die nächste Stelle mitten in der menschenleeren Einsamkeit.

Im Jahr 2005 war das, zu dem Zeitpunkt war die Polarbiologin 30 Jahre alt und schon längst eine erfahrene Expeditionsleiterin: Bis dahin war sie vor allem in Gebirgen unterwegs, in den unzugänglichen Höhenlagen Tibets beispielsweise. „Durch das AWI kam ich damals zum ersten Mal in Kontakt mit den Polarregionen“, sagt sie. Für ihre Forschung braucht sie beides gleichermaßen, die Daten aus den Polar- wie aus den Gebirgsregionen: Sie analysiert die Seesedimente nach Spuren etwa von Pflanzen, die über das Klima vor Tausenden und sogar Millionen von Jahren Auskunft geben. „In diesen Gebieten lässt sich das ablesen. Und mit diesem Wissen aus der Vergangenheit kann man Vorhersagen für die weitere Entwicklung dieser verletzlichen Ökosysteme treffen“, erklärt Ulrike Herzschuh. Für diese Forschung bekam sie jetzt den Leibniz-Preis, die hochkarätigste Wissenschaftsauszeichnung in Deutschland.

Zeltlager während einer Expedition in Region Oymyakon, dem Kältepol der Erde, in Yakutien im Sommer 2021. Bild: Ulrike Herzschuh

Dass die Expeditionen für sie die wichtigste Triebfeder für ihre Forschung sind, daran lässt die Biologin keinen Zweifel: Die Abenteuerlust trieb sie schon mit 17 Jahren weit weg vom heimischen Leipzig, damals fuhr sie mit einer Freundin auf dem Fahrrad durch ganz Schweden bis zum Nordkap. Nach dem Abitur ging sie an die Freie Universität nach Berlin, das Biologiestudium erschien ihr als beste Möglichkeit, ihre Abenteuerlust auch weiterhin auszuleben – vor allem bei der Spezialisierung auf paläontologische Biologie. Die Möglichkeiten ergaben sich rasch: Während ihrer Promotion ging sie mit einem DAAD-Stipendium in den Westen Chinas; in der Gobi-Wüste sammelte sie mit ihren chinesischen Partnern Proben, die sie auf Pollen untersuchte. Diese Pollen verraten, welche Vegetation dort vor vielen Jahrtausenden wuchs – und mit dieser Information kann sie Rückschlüsse darauf ziehen, welches Klima dort zu welcher Zeit geherrscht haben muss.

Heute leitet Ulrike Herzschuh die Abteilung für Polare Terrestrische Umweltsysteme am Potsdamer Standort des AWI, zugleich ist sie Professorin an der Universität Potsdam. Zum AWI kam sie, weil sich die Fragestellungen zum Klima von ihren Expeditionen nahtlos in die dortige Polar- und Ökosystemforschung einfügen.   Die meiste Zeit verbringt sie inzwischen mit der Betreuung von Nachwuchswissenschaftlern: Die Daten aus der Feldforschung müssen aufgearbeitet werden, sie fließen in hochkomplexe Modelle ein, die das Erdklima abbilden. „Wir müssen die Vergangenheit verstehen um nach vorn schauen zu können“, so formuliert es Ulrike Herzschuh. Im Klartext heißt das: Aus den Expeditionsdaten und den prähistorischen Proben entstehen Vorhersagen der Zukunft – aber nicht nur zu Temperatur- und Niederschlagswerten, sondern zur Dynamik des gesamten Ökosystems. „Der ökologische Wandel läuft nicht eins zu eins mit den Klimaänderungen ab“, sagt Herzschuh: „Die Ausbreitungsprozesse von Pflanzen sind deutlich langsamer.“ Gerade hat ihre Arbeitsgruppe ein Modell entwickelt, das mit prähistorischen Daten aufzeigt, wie sich die Waldgrenze durch klimatische Änderungen verschiebt.

Ulrike Herzschuh in Cold Bay, Alaska, Sommer 2023. Bild: Ulrike Herzschuh

Dass ihre Forschung einmal durch die Klimakrise eine so brisante aktuelle Bedeutung erlangt, ahnte Ulrike Herzschuh noch nicht, als sie sich auf die Polarbiologie spezialisierte – „damals ging es uns eher um die historischen Entwicklungslinien.“ Erst nach und nach sind diese Methoden an der Grenze zwischen Erdsystemwissenschaft und Biodiversitätsforschung auch für die Gegenwart in den Brennpunkt geraten.

Ihre Forschung hat dieses gestiegene öffentliche Interesse kaum verändert, und auch eine frühe Absprache mit ihrem Mann gilt bis heute: Eine Expedition im Jahr will sie machen, fünf bis sechs Wochen, und ihr Mann kümmert sich in dieser Zeit um die inzwischen drei Kinder im Teenager-Alter. „Dafür habe ich meine sonstige Reisetätigkeit eingeschränkt, ich bin nicht viel auf Konferenzen und Tagungen unterwegs“, so skizziert Ulrike Herzschuh die Abmachung. Und so geht sie während ihrer Zeit regelmäßig ins Theater, mit Freunden haben sie eine Art Theaterzirkel gegründet. Alle zwei, drei Wochen schauen sie sich zusammen neue Inszenierungen an. Und über das Jahr hinweg steigt dann wieder die Vorfreude auf die nächste Expedition.

Bald wird sich übrigens der Kreis zum Beginn ihrer Karriere schließen. „In der Oberstufe hatte ich eine großartige Bio-Lehrerin“, sagt Ulrike Herzschuh. Wenn die Schülerin damals neugierige Fragen stellte, brachte die Lehrerin ihr in der nächsten Stunde Ausschnitte aus Fachzeitschriften mit, und im Unterricht forderte sie von ihren Schülern Hypothesendenken wie in der Wissenschaft. Wenn Ulrike Herzschuh ihren Leibniz-Preis entgegennimmt, wird ihre Bio-Lehrerin von einst mit im Publikum sitzen.

Leibniz-Preis für AWI-Forscherin Ulrike Herzschuh

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