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Blickwinkel

Sind Tierversuche unverzichtbar?

Zahlreiche wissenschaftliche Erkenntnisse und Therapien basieren auf der Forschung an und mit Tieren. Diese Versuche sind gesellschaftlich umstritten und gelten bei einigen als längst überholt. Zwei Blickwinkel.

Johannes BeckersGruppenleiter am Institut für Experimentelle Genetik des Helmholtz Zentrums München - Deutsches Forschungszentrum für Gesundheit und Umwelt und Mitglied der Steuerungsgruppe der Informationsinitiative „Tierversuche verstehen“

"Auf absehbare Zeit werden wir noch nicht vollständig auf Tierversuche verzichten können. Warum sie notwendig sind, müssen wir der Gesellschaft besser erklären"

Es gibt heute keine neue Therapie für Krankheiten des Menschen, die ohne Grundlagen- und präklinische Forschung in Tierversuchen möglich wäre. Dazu nur drei Beispiele: Die Lebenserwartung bei AIDS lag in den 1980ern bei wenigen Jahren; heute ist es eine behandelbare chronische Erkrankung. In Deutschland retten pro Jahr etwa 4.000 Organtransplantationen Menschen das Leben. Und Impfungen gegen Kinderlähmung oder Diphtherie schützen unsere Kinder vor schweren Krankheiten. Alle diese Therapien gäbe es ohne wissenschaftliche Erkenntnisse aus Tierversuchen heute nicht.

Für Volkskrankheiten wie Diabetes, Krebs, Demenz, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Infektionen und Immunerkrankungen gibt es häufig jedoch noch keine heilende Behandlung. Der Grund dafür ist, dass wir sie noch nicht ausreichend verstehen. Tierversuche ermöglichen es uns zu untersuchen, wie Umwelt und Gene zusammen mit verschiedenen Organsystemen zu einer Krankheit führen und zu deren Verlauf beitragen. In vielen Bereichen steht die Biologie noch am Anfang und wir finden noch immer neue, unvorhergesehene Zusammenhänge. Die Epigenetik – das heißt die Erforschung, wie Umwelteinflüsse die Aktivität von Genen beeinflussen – ist ein Beispiel für ein solches aktuelles Forschungsgebiet, bei dem wir neue biologische Mechanismen gerade erst entdecken. Forschung mit Tieren ist immer in einen gesellschaftlichen Kontext eingebunden. Sie ist europaweit gesetzlich reguliert und darf nur nach Genehmigung durch Behörden und ethischer Begutachtung durch unabhängige Kommissionen durchgeführt werden. Grundsätzlich gilt, dass Tierversuche nur zulässig sind, wenn keine alternative Methode zur Verfügung steht und der zu erwartende Erkenntnisgewinn das Leiden der Tiere vertretbar macht. Neben der Verantwortung gegenüber der Gesellschaft, Leiden beim Menschen zu mindern, tragen wir Forschenden aber auch die Verantwortung für das Leiden der Tiere in Versuchen. Dabei handeln wir stets nach dem Grundprinzip Tierversuche zu ersetzen, zu reduzieren und zu verbessern (3R-Prinzip: reduce, refine, replace). Wie in der Humanmedizin auch, werden im Experiment Analgesie und Anästhesie eingesetzt, um Schmerzen und Leiden bei Tieren zu mindern. Der überwiegende Teil der Versuche kommt ohne oder mit geringer Belastung aus – wie zum Beispiel bei Blutentnahmen, Verhaltenstests, Bildgebung oder anderen, nicht-invasiven Methoden. Auf absehbare Zeit werden wir nicht vollständig auf Tierversuche verzichten können. Warum sie notwendig sind, müssen wir der Gesellschaft noch besser erklären und dort um Verständnis werben.


Ute Schepers Gruppenleiterin am Institut für Toxikologie und Genetik des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT)

„Alternative Methoden könnten uns bei der Entwicklung einer personalisierten Medizin schneller voranbringen.“

Sind Tierversuche heute noch ethisch, wirtschaftlich und wissenschaftlich vertretbar, wenn 95 Prozent aller in Tieren positiv getesteten Wirkstoffe wegen der schlechten Wirksamkeit im Menschen den Markt nie erreichen? Warum steigt die Anzahl der Tierversuche bei stagnierenden Zahlen der Neuzulassungen von Medikamenten? Ist das Modell Tierversuch im Hinblick auf die Debatte um personalisierte Medizin noch zeitgemäß?

Es gibt immer mehr wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse, die zeigen, dass ein Tierversuch einem direkten Test in einer genetisch diversen menschlichen Probandengruppe deutlich unterlegen ist. Bei neueren Testverfahren, wie zum Beispiel dem Microdosing, bekommen Probanden eine minimale Dosis eines Wirkstoffs, die keinerlei Wirkung erzeugt, sondern nur eine Aussage über die Aufnahme und Verstoffwechslung von potenziellen Wirkstoffen bringt. Allerdings ist dieses Verfahren nicht für die erste Testung Tausender potenzieller Wirkstoffe geeignet. Der „Mensch auf dem Chip“ (Organ-on-a-Chip oder Body-on-a-Chip) ist ein vielversprechender Ansatz, der das Problem „Tierversuch nein?/menschliche Verträglichkeit ja“ zu lösen scheint. Auf solchen Multiorganchips werden miniaturisierte und multizelluläre Organe des Menschen nachgebildet und über ein künstliches Blutgefäßsystem miteinander verbunden. Fast alle Organe des Menschen konnten bereits auf solchen Chips von wenigen Quadratzentimetern nachgebildet werden. Potenzielle Wirkstoffe können diesem System zugegeben und ihre Wirkung auf die verschiedenen Organe detailliert untersucht werden.

An Methoden, wie sich mit solchen Chips parallel Tausende Wirkstoffe testen lassen, wird weltweit intensiv gearbeitet. Den größten Nutzen wird diese Technologie jedoch im Zusammenspiel mit der Erforschung von induzierten pluripotenten Stammzellen (iPSC) von einer Vielzahl von Patienten bringen. Dies wird es ermöglichen, den konkreten Patienten „auf dem Chip“ darzustellen und der personalisierten Medizin einen bedeutenden Schritt näher zu kommen. Natürlich ersetzen diese Systeme noch mehrere Jahre nicht den Tierversuch als gesetzlich anerkanntes Testsystem in der Medikamentenentwicklung. Dessen müssen wir uns bewusst sein. Aber: An Tierversuchen als alleinstehendem System zur Entwicklung von Medikamenten festzuhalten, ist nicht nur ethisch bedenklich. Alternative Methoden könnten uns bei der Entwicklung einer personalisierten Medizin schneller voranbringen. Deshalb sollte man neuen Technologien den Raum lassen, sich zu entwickeln und ihr enormes Potenzial für die künftige Medizin zu entfalten.

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