Interview
„Science Diplomacy braucht exzellente Wissenschaft“
Zehra Sayers war Co-Vorsitzende des wissenschaftlichen Beratungsausschusses des Synchrotronbeschleunigers SESAME in Jordanien. Im Interview spricht sie über die Vision, Erfolge und Hindernisses des Projektes.
Frau Sayers, was ist das Besondere an SESAME?
SESAME ist ein interdisziplinäres Forschungszentrum und wurde 2017 eröffnet. An der Gründung beteiligt waren neben Jordanien Bahrain, Ägypten, Iran, Israel, Pakistan, die Palästinensische Autonomiebehörde, die Türkei und Zypern. Die Mission von SESAME ist, Weltklassewissenschaft in den Nahen Osten zu bringen.
SESAME ist das erste internationale Forschungslabor im Nahen Osten. Wie sehen Sie seine Rolle?
SESAME versteht sich als Wegbereiter von Science Diplomacy, und Science Diplomacy braucht exzellente Wissenschaft. Wir möchten technologische Infrastruktur in der Region etablieren. Wir möchten Forschende mit unterschiedlichen politischen und ethnischen Hintergründen dazu bringen, gemeinsam unter einem Dach zu forschen. Und wir möchten den Braindrain aus dem Nahen Osten umkehren: es sollen Menschen hierherkommen, um zu forschen, anstatt von hier wegzugehen.
Sie selber haben einen britisch-türkischem Hintergrund. Welche Rolle spielt Multikulturalität bei Ihnen am SESAME?
Eine große. Unsere Wissenschaftler:innen kommen nicht nur aus den Staaten der Gründungsmitglieder, sondern aus vielen Ländern weltweit. Unser gegenwärtiger Forschungsdirektor etwa ist Italiener.
Am SESAME arbeiten Forschende aus Israel und dem Iran zusammen. Das dürfte in dieser Form einmalig sein. Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit?
Gegenseitiger Respekt bei unterschiedlichen kulturellen Hintergründen ist eine Grundregel. Wie sich jemand kleidet oder wie jemand betet, spielt keine Rolle. Und wer geistige Ruhe sucht, findet dafür einen Raum.
Sehen Sie sich als „Role Model“ für israelisch-Arabische Kooperation in der Region?
Wir versuchen, den Job zu machen, den das West-östliche-Diwan-Orchester in Berlin macht. Wie in der Musik, verschwinden auch in der Wissenschaft die Grenzen zwischen den Völkern und Kulturen.
Woran forschen Sie am SESAME?
SESAME ist eine User Facility. Das bedeutet: unsere Ingenieur*innen an den Beamlines sind Dienstleiter. Sie ermöglichen Wissenschaftler*innen aus verschiedenen Disziplinen, materiale Strukturen zu untersuchen, ohne sie zu zerstören.
Wie funktioniert das?
Synchrotronstrahlung dient vor allem dazu, die Struktur, Zusammensetzung und physikochemische Funktionalität eines Objekts zu bestimmen. Die im Ringbeschleuniger erzeugte Strahlung wird auf den Gegenstand gelenkt, durch die Absorption oder Streuung der Strahlung kann dann beispielsweise bestimmt werden, woraus der Gegenstand besteht. Ob man die Zusammensetzung der Objekte bestimmen kann, hängt vor allem davon ab, wie viel Material davon vorhanden ist. Beispielsweise mit Infrarotspektroskopie können wir erkennen, woher bestimmte Spuren an dem untersuchten Objekt stammen, etwa aus der Nahrung, die die Menschen zu sich genommen haben, ob sie nahe einer Silber- oder Kupfermine lebten, ob sie an bestimmten Krankheiten litten, wie die klimatischen Bedingungen waren etc.
Was für Objekte werden bei Ihnen typischerweise an SESAME untersucht?
Das sind zum Beispiel archäologische, und zwar ebenso Kunstwerke wie Alltagsgegenstände, und sonstige Materialien oder Materieproben. Haarteile, die aus alten Gräbern stammen, Zähne und Knochen, aber auch alte Handschriften. Jüngst etwa haben Forscher*innen aus dem Iran und Frankreich antike Koranhandschriften analysiert; das Forschungsergebnis wird zurzeit publiziert.
Was war das bislang älteste Objekt?
Das älteste Objekt, das wir bisher an SESAME untersucht haben, ist die Haut eines mumifizierten ägyptischen Kopfes, die auf ca. 1.500 bis 1.470 v. Chr. datiert wird.
Aus welchen Disziplinen stammen die Forschenden, die am SESAME Untersuchungen durchführen?
Für die aktuell laufende Betriebsrunde am SESAME wurden 31 Projekte aus Physik und Geowissenschaften angenommen, neun aus den Biowissenschaften, zehn aus der Archäologie und neun aus der Chemie.
Stichwort Klimawandel: wird am SESAME auch zu Umweltbedingungen geforscht?
Gerade untersuchen wir Kontamination des Bodens im Jordantal durch gesundheitsschädliche Schwermetalle. In meinem speziellen Bereich, der Biologie, untersuchen wir die bislang unbekannte Funktionsweise von Heilpflanzen aus der Region, indem wir deren zelluläre Struktur untersuchen.
Wir leben in politisch aufgewühlten Zeiten. Mit welchen Schwierigkeiten kämpfen Sie?
Das Politische versuchen wir auszublenden; wir schließen die Tür und lassen die Politik draußen. Dass der Iran aufgrund der Sanktionen seine Beiträge aktuell nicht zahlen kann, ist ein Problem. Uns fehlen zum Beispiel auskömmliche Mittel für den Betrieb der HESEB-Beamline (die Helmholtz-SESAME soft x-ray beamline HESEB, die von der Helmholtz-Gemeinschaft und einer Reihe ihrer Forschungszentren aufgebaut wurde, die Red.) und auch für Ersatzteile.
Wie könnte Deutschland SESAME helfen?
Wir brauchen mehr Wissenschaftler:innen aus Europa am SESAME. Dieses Jahr hatten wir erstmals einen Praktikanten aus Hamburg dort. Das ist großartig, das würden wir gerne ausbauen, auch mithilfe der Helmholtz-Gemeinschaft. Wir wissen von einer Gruppe Archäologen in Berlin, die gern zum SESAME kommen würden. Wir brauchen Wissenschaftler*innen und Praktikant*innen, die hier bei uns arbeiten wollen.
Wenn Sie einen Wunsch hätten, welcher wäre das?
Ungefähr 1.000 Nutzer*innen sind am SESAME registriert, aber nur 15 können gleichzeitig bei uns forschen. Diese Zahl würden wir gern erhöhen, am liebsten auf einhundert. Um das zu erreichen, müsste sich unser Budget von aktuell 6 Millionen Dollar verdoppeln.
Frau Professor Zayers, herzlichen Dank für dieses Gespräch!
Leser:innenkommentare