Reallabore
Schulterschluss zwischen Forschung und Praxis
Forschung unter realen Bedingungen in der Mitte der Gesellschaft – diese Idee steckt hinter einem Reallabor. Der Karlsruher Wissenschaftler Oliver Parodi erklärt, wie das Ganze funktioniert und warum sich der Perspektivenwechsel lohnt.
Herr Parodi, mit dem Begriff „Labor“ verbindet man einen abgesteckten, kontrollierten Raum, der Unwägbarkeiten außen vor lässt. Und wenn die Realität mit ins Spiel kommt, die Wissenschaft ihren Elfenbeinturm verlässt, heißt das dann „Reallabor“?
Genauso ist es. Die Idee ist, das Labor in die Mitte der Gesellschaft zu verlagern – und das bedeutet natürlich, dass man keine solch kontrollierten Bedingungen herstellen kann wie in einem biotechnischen oder chemischen Labor. Dass man seinen Beobachtungsgegenstand komplett isoliert, geht natürlich nicht. Ein Reallabor bietet einen gewissen kontrollierten Rahmen innerhalb eines offenen Systems, um dort zu forschen und Wissen zu generieren. Die zweite, mindestens genauso wichtige Idee hinter dem Begriff ist, das Reallabor als transdisziplinäre Infrastruktur zu verstehen. Man baut sozusagen ein Labor in der Gesellschaft auf und hält eine Infrastruktur vor, die aber beständiger ist als einzelne Experimente, die nach kurzer Zeit wieder abgebaut werden.
Die Beteiligten kommen in jedem Fall vor Ort zusammen, um sich auszutauschen?
Ja. Wir haben beispielsweise mit dem Reallabor „Quartier Zukunft“ – nach eingehender Analyse – gesagt: Wir gehen in die Karlsruher Oststadt und nehmen einen Stadtteil als Projektgebiet. Andere wählen einen Uni-Campus aus oder ganze Städte. Es geht schon darum, einen Ausschnitt zu benennen, um diesen dann gezielt bespielen zu können. Wichtig dabei ist, dass im Reallabor nicht über die beteiligten Akteure und Personen geforscht, sondern vor allem gemeinsam mit diesen experimentiert wird.
Nehmen wir das Beispiel Karlsruher Oststadt. Da sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die wollen erforschen, wie sich ein Stadtteil nachhaltig entwickeln lässt. Und haben dafür einen Raum gemietet, interagieren von dort aus mit den Menschen, die dort wohnen.
Genau. Wichtig beim Reallaborgedanken ist die Transdisziplinarität, also dass man auch aus dem eigenen Forschungsinstitut herausgeht und mit anderen Akteuren zusammenarbeitet. Dass auch Akteure außerhalb der Wissenschaft bei Forschungs- und Entwicklungsprojekten gleichberechtigt mitmachen. Der Dialog findet zwischen Wissenschaft und Gesellschaft statt. Und der lässt sich am besten organisieren, wenn man vor Ort ist, sichtbar, ansprechbar. Wir nutzen dafür den „Zukunftsraum für Nachhaltigkeit und Wissenschaft“, unser Quartiersbüro.
Die Rolle der Forschenden ist eine andere als in einem normalen Labor: Sie sind so involviert, dass sie selber Einfluss auf das Geschehen nehmen. Das ist aber durchaus gewollt?
Die Meinungen, wie man im Reallabor genau vorgehen soll, gehen diesbezüglich durchaus auseinander. Wir vertreten die Ansicht: Wir sind beides, Forscher und Akteure der Nachhaltigkeit und wir generieren sowohl Wissen als auch konkrete Beiträge für nachhaltige Entwicklung. Das Reallabor ist eine Forschungs- und Entwicklungseinrichtung, das sollte auch entsprechend umgesetzt werden. Wichtig dabei ist, die eigenen Rollen transparent zu machen – und entsprechend zu reflektieren.
Seit wann gibt es den Begriff „Reallabor“ überhaupt?
Ungefähr seit 2013. Er stammt aus der transdisziplinären, transformativen Nachhaltigkeitsforschung. Er blieb zunächst im „Nachhaltigkeitsumfeld“, 2015 hat dann Baden-Württemberg unter dem Programm „Wissenschaft für Nachhaltigkeit“ die erste große Förderlinie zu Reallaboren aufgesetzt. Zunehmend wurde der Begriff dann auch von anderen Akteuren an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Praxis aufgegriffen. Und damit auch mitunter verwässert, muss man sagen. Mittlerweile nennen viele ihre Innovationsprojekte „Reallabor“, schlicht weil es gut ankommt.
Wie erkenne ich denn ein klassisches, „echtes“ Reallabor?
Wir am Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse haben neun konstitutive Charakteristika eines Reallabors herausgearbeitet. Das Wichtigste ist die normative Zielsetzung der Nachhaltigkeit. Ein Reallabor etwa zu autonomen Waffensystemen kann es demnach nicht geben. Es bedeutet auch mehr als nur Experimentieren oder Technologien erproben – Interaktion, Reflektion und der Dialog mit der Gesellschaft sind entscheidend. Und der Anspruch, Reallabore als echte Labore langfristig zu etablieren, sollte auch gegeben sein. Momentan sind die meisten Reallabore als Projekte angelegt. Das bedeutet: Sie enden nach drei bis fünf Jahren. Dass ein Reallabor, so wie es entworfen wurde, auch nach zehn Jahren noch besteht, ist uns in Karlsruhe mit dem „Quartier Zukunft“ gelungen. Das ist aber längst nicht der Normalfall.
Sie sagen, Laufzeiten von 20 bis 50 Jahren wären wünschenswert. Aber wie findet man einen Finanzier über so einen langen Zeitraum?
Gegenfrage: Wie bekommt man Leute dazu, Milliarden in so etwas wie einen Teilchenbeschleuniger zu stecken und dafür einen 30 Kilometer langen Tunnel zu bohren? Nachhaltigkeit ist eine dringende Menschheitsaufgabe, im Thema Klimawandel steckt das Überleben der Menschheit. Warum also werden nicht Milliarden in entsprechende Reallabore gesteckt?
Sind Reallabore ein deutschsprachiges Phänomen?
Zunächst ja. Der Begriff ist ein deutscher, aber eingebettet in einen globalen Trend, der Nachhaltigkeitsforschung und sozialwissenschaftliche Forschung experimenteller auffasst und näher an den Alltag bringt. „City Labs“ oder „Urban Transition Labs“ beispielsweise sind artverwandte Konzepte.
Haben Sie noch mehr Beispiele für erfolgreiche Reallabore?
Ja, etwa das Reallabor „Nachhaltige Mobilitätskultur“ in Stuttgart, das Reallabor „Wohlstands-Transformation Wuppertal“ oder der „Wissensdialog Nordschwarzwald“. Das KIT hat – als Forschungsuniversität in der Helmholtz-Gemeinschaft – im Zuge seiner Bewerbung als Exzellenzuniversität stark auf den Ausbau der Reallaborforschung gesetzt. In den nächsten Jahren werden dort mehrere große Reallabore entstehen – zu Themen wie Autonomes Fahren, Barrierefreiheit für körperlich eingeschränkte Menschen oder dem gesellschaftlichen Umgang mit Extremereignissen.
Wie kommen die Akteure zusammen? Starten Forschende Aufrufe? Oder kommt da auch mal jemand, eine Bürgerinitiative vielleicht, und sagt: Wir hätten gerne wissenschaftliche Unterstützung?
Nach unserem Reallaborverständnis ist das Ganze ein dialogischer Prozess, der mal von der einen, mal von der anderen Seite eröffnet wird. Bei uns im Reallabor „Quartier Zukunft“ hatten wir 2013 beispielsweise die Idee, das erste Reparaturcafé in Karlsruhe zu eröffnen. Also riefen wir breit in die Bürgerschaft hinein: „Wer hat Lust, mit uns ein Reparaturcafé anzuschieben?“ 30 interessierte Bürgerinnen und Bürger meldeten sich. Dann haben wir es gemeinsam angeschoben und gleichzeitig beforscht. Das Reparaturcafé hat sich inzwischen etabliert und läuft ohne uns Forschende.
Es kommen aber auch Bürgerinnen und Bürger sowie weitere Akteure mit Ideen auf uns zu. Wir haben etwa ein großes BürgerForum durchgeführt, wo wir die Bewohnerinnen und Bewohner fragten: Was bedeutet für euch nachhaltige Entwicklung in der Oststadt? Dann haben die Teilnehmenden über mehrere Wochen eigene Diskurse geführt, Ideen entwickelt, diese in einem „Bürgerprogramm“ verschriftlicht – und wir haben das in unserem Reallabor aufgenommen.
Was hat es mit dem „Netzwerk Reallabore der Nachhaltigkeit“ auf sich?
Da war das KIT Initiator und Gründungsmitglied mit anderen Einrichtungen – der Leuphana-Universität, dem Wuppertal Institut und dem Ecological Research Network (Ecornet), um die Reallaborforschung zu stärken und nach außen sichtbar zu machen. Dort sind inzwischen mehr als 40 Reallabore verzeichnet, man kann auch als Organisation oder Person Mitglied werden. Neben der Bereitstellung von Information und dem Ausrichten von Veranstaltungen ist das Netzwerk insbesondere eine Plattform zum Austausch.
Welche Rolle spielt die Wissensvermittlung?
Reallabore sind zunächst nicht als Bildungsinitiativen gestartet, sondern als Schulterschluss zwischen Forschung und Praxis, zwischen Wissen produzieren und Gesellschaft gestalten. Wir haben dann aber festgestellt, dass sie viele und teils auch tiefgreifende Bildungsprozesse anstoßen. Dass es nicht nur darum geht, neues Wissen zu produzieren, sondern tatsächlich auch darum, Wissen zu vermitteln – und um Selbstreflexion, der eigenen Rolle oder Weltsicht. Jedes Mal, wenn sich unterschiedliche Akteure treffen, findet Bildung statt. Wenn zum Beispiel der Nabu mit EnBW, den Menschen aus der Stadtverwaltung und mit Studierenden und Forschenden zusammentrifft. Da hinterfragt jeder dann auch seine eigene Position und Profession – und das ist dann Bildung im besten Sinne.
Projekt „Quartier Zukunft – Labor Stadt“
Helmholtz-Challenge „Im Labor gemeinsam die Zukunft erproben“
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