Interview
„Plötzlich waren wir Problemlöser!“

Sebastian Schmidt und Franziska Broer sprechen in der Rieslingstube der Hessischen Landesvertretung in Berlin über 30 Jahre Helmholtz-Gemeinschaft. Bild: David Marschalsky
Seit drei Jahrzehnten steht Helmholtz für die Suche nach Lösungen für die großen Fragen unserer Zeit. Mit der Geschäftsführerin Franziska Broer und Sebastian Schmidt, dem Wissenschaftlichen Direktor des Helmholtz-Zentrums Dresden Rossendorf haben wir über Visionen, Erfolge und Herausforderungen der Gemeinschaft im Wandel der Zeit gesprochen.
Frau Broer, Herr Schmidt, haben Sie beide einen persönlichen Helmholtz-Moment, in dem Sie wie unter einem Brennglas gesehen haben, was die Gemeinschaft ausmacht?
Sebastian Schmidt: Für mich war 2004 nach der Tsunami-Katastrophe im Indischen Ozean einer dieser prägenden Momente. Damals hat die Helmholtz-Gemeinschaft ein Tsunamifrühwarnsystem aufgebaut. Das konnte kein Zentrum für sich. Dafür war die Seismik des GFZ Helmholtz-Zentrums für Geoforschung genauso wichtig wie die Meeresforschung vom GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel, die Satellitentechnik vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt oder die Modellierungen vom Alfred-Wegener-Institut und Helmholtz-Zentrum Hereon. Da hat Helmholtz gezeigt, wie gut seine Mitglieder zusammenarbeiten können.
Franziska Broer: Für mich war 2021 so ein Moment. Es feierten in diesem Jahr zufällig drei unserer ehemaligen Präsidenten einen runden Geburtstag. Wir baten die ehemaligen Ministerinnen und Minister bei einem Treffen eine Laudatio auf die Jubilare zu halten und die gemeinsame Zusammenarbeit in den jeweiligen Jahren zu beleuchten. Dabei wurde deutlich, wie groß die Wirkung einer zwischen Politik und Wissenschaft gut abgestimmten strategischen Zusammenarbeit sein kann. Die Helmholtz-Gemeinschaft profitiert beispielsweise heute immer noch von den Impulsen von Edelgard Bulmahn oder Annette Schavan, die beide viele gute Entscheidungen getroffen haben. Die Programmorientierte Förderung hat Frau Bulmahn damals als Ministerin mit vorangetrieben, bestimmt auch gegen manchen Widerstand im eigenen Haus. Und Frau Schavan hat wichtige systemische Entscheidungen verantwortet. Ich denke da an die Etablierung der Deutschen Zentren für Gesundheitsforschung, den neuen Ansatz des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE), ein Zentrum der Helmholtz-Gemeinschaft. Nicht vergessen werden darf der Pakt für Forschung und Innovation, den Frau Bulmahn ins Leben gerufen hat.
Sebastian Schmidt ist Physiker und wissenschaftlicher Direktor des Helmholtz-Zentrums Dresden-Rossendorf. Außerdem ist er amtierender Vizepräsident für den Helmholtz-Forschungsbereich Materie. Bild: David Marschalsky
Wie hat sich denn der lose Verbund der Zentren, den es ja vor Gründung der Helmholtz-Gemeinschaft schon gab, im Laufe der Zeit verändert und wie hat die Gemeinschaft davon profitiert?
Sebastian Schmidt: Als ich im Jahr 2002 in der Helmholtz-Geschäftsstelle angefangen habe, merkte ich sehr stark, dass ich es mit Einzelzentren zu tun hatte. Die waren für sich stark und haben ihre Belange im Wesentlichen selbst gemanagt. Es war nicht richtig klar, was eigentlich hinter den Zäunen der Großforschungszentren gemacht wurde. Das alles hat die Programmorientierte Förderung umgedreht. Sie hat gesagt, wir haben nicht 18 Zentren, sondern wir haben sechs Forschungsbereiche. Vor uns stehen große Herausforderungen und wir als Gemeinschaft sagen, dass wir diese Herausforderungen am besten für die Gesellschaft angehen können. In der Öffentlichkeit wurden wir seitdem ganz anders wahrgenommen. Plötzlich waren wir Problemlöser, die ihre Kräfte bündeln und die großen Fragen adressieren. Das war neu.
Franziska Broer: Ich glaube, das Wichtigste, wofür Helmholtz steht, ist, dass wir strategiefähig sind. Und dazu hat die Programmorientierte Förderung extrem beigetragen, weil sie jedes Zentrum dazu gezwungen hat, in einem permanenten Strategieprozess zu sein. Es muss ständig seine Rolle im Gesamtsystem, innerhalb des Forschungsbereichs hinterfragen. Es muss sich mit den anderen vergleichen, sein Alleinstellungsmerkmal und seinen Beitrag zum Ganzen herausarbeiten. Das ist natürlich nicht einfach. Als die Programmorientierte Förderung eingeführt wurde, war ich an einem Helmholtz-Zentrum. Und es war interessant zu merken, wie sich auf einmal die Diskussionen im Zentrum änderten. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die in verantwortlichen Positionen waren, standen auf einmal vor der Herausforderung, Themen voranzutreiben, die sich fünf Jahre später wieder einer Begutachtung im Kontext der Gesamtausrichtung des jeweiligen Forschungsbereichs unterziehen mussten. Man hat angefangen, sehr strategisch zu denken: Welche Personen, Technologien und Infrastruktur brauche ich, was machen die anderen? Wir haben das in unsere DNA übernommen.
Franziska Broer ist seit 2016 Geschäftsführerin der Helmholtz-Gemeinschaft. Ab Mai 2025 übernimmt sie die Geschäftssführung am Universitätsklinikum Freiburg. Bild: David Marschalsky
Die Helmholtz-Zentren müssen sich im Rahmen der Programmorientierte Förderung immer wieder selbst erfinden. Herr Schmidt, wie sieht es aber mit der Gemeinschaft als Ganzes aus?
Sebastian Schmidt: Vielleicht ist es jetzt mal wieder Zeit, die Idee der Gemeinschaft selbst zu hinterfragen. Da kommt vielleicht heraus, dass die genau richtig ist. Vielleicht kommt aber auch was Anderes heraus. Aber ich würde uns ermutigen, diesen Anlauf zu nehmen. Denn ich merke auch, dass die Gemeinschaft selber nicht in Routinen verfallen darf, die letztlich nur zu mehr Komplikationen führen, und nicht zu mehr exzellenter Wissenschaft. Wir müssen es schaffen, durch absolute Exzellenz in der Wissenschaft zu glänzen. Dabei dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren, dass wir eine bedeutungsvolle Aufgabe im System ausüben und über einzigartige, komplexe Infrastruktur eine Qualitätsmarke aufbauen, die Helmholtz heißt und nicht Zentrum A, B und C. Wir müssen über diese Qualitätsmarke aber auch eine Schutzmarke werden, die letztlich hilft, dass kein Zentrum abgehängt wird. Damit stellen wir sicher, als die wahrgenommen zu werden, die immer Teil der Lösung sind und nicht Teil des Problems.
Frau Broer, Sie erwähnten vorhin schon den Pakt für Forschung und Innovation. Inwieweit war seine Einführung ein Game Changer für Helmholtz?
Franziska Broer: Ich werde nicht müde, es immer wieder zu betonen: Das war wahrscheinlich eine der besten Entscheidungen im deutschen Wissenschaftssystem. Alle haben davon profitiert. Der Pakt ist outputorientiert, das heißt, die Politik macht keine detaillierten Vorgaben, sondern setzt auf die Eigenverantwortung und erwartet von uns eine progressive Organisationsentwicklung entlang der aktuellen Herausforderungen. Und am Ende sind Systeme, in denen klugen Akteuren Eigenverantwortung zugestanden wird, immer erfolgreicher. Ich würde mir wünschen, dass diese Philosophie auch auf andere Bereiche übertragen wird. Zudem bietet der Pakt, das darf man nicht verschweigen, eine langfristige finanzielle Förderung mit einem verlässlichen Aufwuchs. Das ist viel wert.
Helmholtz hat als Gemeinschaft gelernt, stärker untereinander zu kooperieren. Wie sieht es denn mit externen Partnern, wie den Universitäten aus? Welche Rolle spielen sie und was könnten wir machen, um dieses Zusammenspiel noch weiter auszubauen?
Sebastian Schmidt: Man muss ganz klar sagen, der wichtigste strategische Partner, den die Helmholtz-Zentren haben, sind deutsche Universitäten. Der Zusammenhalt zwischen universitären und außeruniversitären Partnern ist eine absolute Stärke unseres Wissenschaftssystems. Gleichzeitig ist aber auch eine gewisse Versäulung wichtig. Ich finde es gut, dass Fraunhofer zum Beispiel eine andere Mission hat als Helmholtz, Leibniz oder die Universitäten. Das macht uns sogar stark, weil jeder dadurch eine fokussierte Strategie hat und damit zum großen Ganzen beiträgt. Da ist Deutschland einfach klasse. In den USA zum Beispiel kooperieren die National Labs in dieser Form nicht mit Universitäten. Da sieht man weit weniger Doktorandinnen und Doktoranden. Bei uns in den Zentren dagegen sind die die Leistungsträger. Sie sind das Rückgrat der deutschen Forschung, auch in der Großforschung.
Franziska Broer: Wir führen mittlerweile fast alle Berufungen mit einer Universität zusammen durch. Wir haben auch mutige Schritte gewagt, indem wir mit den Helmholtz-Instituten auf den Campus der Universitäten gegangen sind. Aber es geht immer noch mehr. Wenn ich zum Beispiel an meine neue Aufgabe am Universitätsklinikum Freiburg denke. Durch die Digitalgesetze stehen uns im Gesundheitsbereich an den Unikliniken Patientendaten und Forschungsdaten zur Verfügung. Demgegenüber hat Helmholtz insbesondere im Bereich KI starke Kompetenzen. Wenn die beiden sich jetzt noch ein bisschen enger zusammentun, könnte echtes Potenzial gehoben werden.
Bild: David Marschalsky
Wäre es darüber hinaus nicht an der Zeit, noch stärker auf Industriepartnerschaften zu setzen?
Sebastian Schmidt: Auch das Thema Industriepartnerschaften hat sich in den letzten Jahren wesentlich verbessert. Ich denke, wir agieren mittlerweile viel strategischer als früher. Wir haben eine Reihe von strategischen Partnerschaften und Allianzen, die zu mehr dienen, als nur ein Problem für die Industrie zu lösen. Es geht dabei auch immer um personellen Austausch, bei dem wir uns langfristig gegenseitig in die Karten gucken. Das ist auch auf einem ganz anderen Niveau als vor 25 Jahren, da lässt sich aber auch noch einiges verbessern. Zum Beispiel beim Abbau bürokratischer Hürden. Wir agieren in der Forschung auf anderen Zeitskalen, als die Industrie. Gerade in der Großforschung sind schnelle Lösungen schwieriger umsetzbar. Ich nenne mal ein Beispiel: Ein Pharmaunternehmen will auf dem Gelände eines unserer Helmholtz-Zentren etwas produzieren. Bis wir eine Genehmigung kriegen, dass die bei uns ein Gebäude bauen dürfen, ist der Zug längst abgefahren. Ich verstehe, dass das nach der Gesetzgebung nicht anders möglich ist. Wenn man Deutschland allerdings voranbringen will, muss man sich fragen, ob sich das nicht ändern lässt.
Franziska Broer: Wobei das ja in der Corona-Phase einmal ganz hervorragend geklappt hat. Eine Professorin von einem Helmholtz-Zentrum hatte einige Jahre zuvor mit ihrem Mann eine Firma gegründet und durch die Arbeit dieser Firma 2020 den Baustein dafür gelegt, dass wir relativ schnell einen Impfstoff hatten. Und plötzlich standen in diesem Fall keine bürokratischen Hürden im Vordergrund, es konnte in Rekordzeit ein Impfstoff entwickelt und auch die Infrastruktur zur Verfügung gestellt werden, um den Impfstoff einsetzen zu können. Das hat natürlich so gut funktioniert, weil die Not so groß war.
Sebastian Schmidt: Es gibt ganz viele Beispiele, wo das hervorragend klappt, aber ich denke, da geht noch mehr. Es ist beispielsweise völlig normal, dass wir in unseren Aufsichtsgremien Vertreter aus Universitäten haben. Es ist aber leider nicht normal, dass Aufsichtsräte von Industriegeschäftsführern geleitet werden. Dabei könnte das die Verflechtung wesentlich fördern. Das Verständnis füreinander würde sich vergrößern und auch das Potenzial der Zusammenarbeit ließe sich so besser heben.
Ist die Gemeinschaft gerüstet für die Herausforderungen, vor denen wir gerade stehen? Was müssten wir anpassen, um dem gerecht zu werden?
Franziska Broer: Ich glaube, die Gemeinschaft ist sehr gut gerüstet. Was ich mir wünschen würde, wäre, sich wieder auf den Gründungsgedanken zu besinnen. Der besagt, dass die Politik die grundsätzliche Aufgabenstellung dieser Organisation und der einzelnen Zentren vorgibt. Wie diese dann wahrgenommen und umgesetzt wird, das ist Aufgabe der Zentrenvorstände in Abstimmung mit den anderen Zentrenvorständen. Die Politik sollte sich auf die Gestaltung der Rahmenbedingungen konzentrieren. Das würde im Moment helfen.
Vielen Dank für das Gespräch!
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