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Porträt

Mister Quantum Manifesto

Tommaso Calarco. Bild: Stefanie Herbst

Ursprünglich hat Tommaso Calarco Musik studiert, bevor er in die Naturwissenschaften wechselte. Heute ist der Jülicher Quantenphysiker als Verfasser des europäischen Quantum Manifesto einer der einflussreichsten Vertreter seines Faches.

Sogar dann, wenn Tommaso Calarco davon erzählt, wie er seinen Haushalt in Ordnung bringt, hört man sofort, dass er Physiker ist. „Ich habe in den vergangenen Monaten alle Objekte in der Garage und im Keller in die Hand genommen und aufgeräumt“, sagt er und fügt sofort an: „Dabei gibt es Theoreme, die besagen, dass das eigentlich völlig unmöglich ist!“ Und dann folgt das verschmitzte Schmunzeln, das zum Markenzeichen des Italieners geworden ist, wenn er über sich und seine Arbeit spricht.

Um ein Haar wäre Tommaso Calarco Grundschullehrer geworden. Heute, wo der weltweit anerkannte Quantenphysiker am Forschungszentrum Jülich das Institut für Quantenkontrolle am Peter-Grünberg-Institut leitet und in Köln eine Professur hat, klingt der Beginn seiner Karriere wie eine unverfängliche Anekdote, aber damals war es eine schwierige Entscheidung: Die Studienzeit des heute 51-Jährigen neigte sich an den Universitäten in Padua und Ferrera dem Ende entgegen und seine Frau – die er seit der ersten Klasse der Grundschule kennt – war durch ihren Studentenjob in einer Musikschule in der italienischen Region verwurzelt. „In der Physik nennen wir das ein ‚Zwei-Körper-Problem’“, sagt Tommaso Calarco und lacht schon wieder: Die beiden Werdegänge mussten irgendwie synchronisiert werden. „Die Universität Innsbruck ist zwei Stunden entfernt von unserer Heimat, und es gibt dort eine sehr gute Abteilung für Quantenphysik“, sagt Tommaso Calarco. Also stellte er sich vor – und wusste schon beim Bewerbungsgespräch, dass er im Falle einer Absage in den Schuldienst wechseln würde, daheim in Italien. Aber er bekam den Job und es begann sein Aufstieg zu einem der einflussreichsten Quanten-Forscher.

Diesen Einfluss hat Tommaso Calarco vor allem deshalb, weil er es versteht, die europäischen Koryphäen seines Gebiets zusammenzubringen – und dieses geballte Knowhow in politische Entscheidungen umzumünzen. Dass in der EU ein milliardenschweres Flagship-Programm zur Quantentechnologie entstanden ist, liegt auch an ihm. „Mit einigen Kollegen habe ich im Jahr 2014 um ein Gespräch bei Günther Oettinger gebeten, der damals Kommissar für digitale Wirtschaft und Gesellschaft war“, erinnert sich Calarco. Sein Ziel bei dem Gespräch: den EU-Politiker davon zu überzeugen, dass neben den beiden bestehenden EU-Flagship-Projekten zum Gehirn und zu Graphenen auch die Quantentechnik eine solche Großförderung verdienen würde. „Wir trafen ihn in einem Hotel am Stuttgarter Hauptbahnhof. Ich hatte 30 Minuten Zeit und war richtig nervös“, sagt Tommaso Calarco. Er schaffte es, Günther Oettinger zu interessieren – und der bat darum, die mündliche Vorstellung in ein substanzielleres Papier zu transformieren. Innerhalb kürzester Zeit formulierte Calarco das „Quantum Manifesto“, einen 20-Seiten-Aufsatz. „Europa braucht jetzt ein strategisches Investment, um die zweite Quantenrevolution anzuführen“, heißt es darin. Ein flammendes Plädoyer ist dieses Papier – dafür, in Europa selbst kraftvoll zu forschen und das Feld nicht den Amerikanern und Chinesen zu überlassen. Und dafür, Forschung und Wirtschaft im Bereich der Quantentechnik eng zu verknüpfen. 3.600 Quanten-Forscher aus der ganzen EU unterschrieben das Manifesto in der Folge – und die Europäische Union schnürte ein Milliarden-Forschungsprojekt.

„In der Quantentechnik kommt beides zusammen, das Philosophisch-Theoretische und das ganz Handfeste. Diese Kombination fasziniert mich“, sagt Calarco. Einen Posten in Brüssel, obwohl er im Raum stand, lehnte er deshalb ab: Bloßer Administrator zu sein, das reizt ihn nicht. „Die Forschung in der Quantenphysik erinnert mich immer daran, wie ich als Kind mit Legosteinen gespielt hatte. Man bastelt so lange, bis etwas zustande kommt. Da ist eine ungeheure spielerische Faszination dabei.“

Manchmal, wenn ihm Philosophie und Technik zu viel werden, greift Tommaso Calarco zu seiner Gitarre. Die hat er daheim immer griffbereit aufgebaut – „ich habe einen Bachelor in klassischer Gitarre aus der Zeit vor meinem Physikstudium“, sagt er. Und wenn er Zeit hat wie neulich im Corona-Lockdown, dann räumt er nicht nur seinen Keller auf, sondern setzt sich mit seiner Frau und den beiden 15- und 20-jährigen Kindern ins Wohnzimmer und singt ein Madrigal.

„Jetzt in den Sommerferien waren wir in Italien und unsere Freunde haben uns gefragt: Hey, seid ihr zufrieden da in Köln?“, erzählt Tommaso Calarco. „Wir haben unisono mit Ja geantwortet.“ Seine Frau hat in der Domstadt inzwischen ihre eigene Professur als Linguistin, das Zwei-Körper-Problem also ist wieder einmal gelöst. Nur manchmal hadert Tommaso Calarco mit der nördlichsten Stadt, in der er jemals gelebt hat: „Es könnte ein bisschen weniger regnen in Köln!“

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