Nachhaltige Mobilität
Mehr als nur ein paar neue Radwege
Klimaneutral, vernetzt und individuell – Verkehrsforscher arbeiten an nachhaltigen und digitalen Mobilitätskonzepten für Stadt und Land. Ihr Ziel: Lösungen zu finden, die zu den Bedürfnissen der Menschen passen.
131 Stunden. Fast fünfeinhalb Tage am Stück. So lange stand ein Hamburger Autofahrer im Jahr 2019 durchschnittlich im Stau. Und auch wenn im Jahr 2020 die Stauschlange erstmals wieder kürzer wurde: Wenn sich nach dem Abebben der Corona-Pandemie das Verkehrsverhalten wieder normalisiert haben wird, dürfte der Verkehr rasch wieder zunehmen, nicht nur in der deutschen Stauhauptstadt an der Elbe. Doch der individuelle Zeitverlust ist nicht der einzige Grund dafür, dass wir im Verkehrsbereich dringend neue Konzepte brauchen. Die hohen CO2-Emissionen tragen spürbar zum Klimawandel bei. Eine Verkehrswende ist nötig, die nicht nur Ballungsräume, sondern auch ländliche Gebiete in den Blick nimmt. Wie das funktionieren kann, ist derzeit eines der spannendsten Themen der Verkehrsforschung.
Vernetzt, multimodal und einfach zu nutzen – das sind die Schlüsselworte in den Konzepten für die Mobilität der Zukunft. Sich „multimodal“ zu bewegen, ist erst einmal ein alter Hut, denn das heißt nichts anderes, als auf seinem Weg verschiedene Verkehrsmittel zu benutzen – also zum Beispiel mit dem Zug in die Stadt zu fahren und dann in den Bus umzusteigen. Dies vernetzt tun zu können, also mittels Smart Devices einfache, komfortable und schnelle Lösungen in der ganzen Angebotspalette der Verkehrsmittel zu erhalten, bis hin zum Car-Sharing-Angebot oder dem Leih-Lastenfahrrad – das ist der neue Ansatz.
Für Meike Jipp, die neue Direktorin des DLR-Instituts für Verkehrsforschung in Berlin, ist das aber nicht nur eine Frage technologischer Innovationen: „Es ist vor allem ein soziologisches Thema: Wir Menschen entscheiden, auf welche Art und Weise wir mobil sein wollen.“ Dabei seien zwei Ziele zu integrieren, die einander auf den ersten Blick widersprechen: Den Verkehr der Zukunft klimaneutral zu machen, ohne den Menschen ihren Wunsch nach individueller Mobilität abschlagen zu müssen.
Wie schnell sich Verkehrsteilnehmer auf neue Angebote einlassen können, zeigt der Erfolg der sogenannten „Pop-up-Radwege“, die im ersten Corona-Frühjahr 2020 zunächst in Berlin, später auch in anderen Städten aus dem Boden schossen: Mit ein paar Warnbaken und einem gelben Markierungsstrich von der Autostraße abgetrennt, machten die Städte sehr schnell ein Angebot, um Menschen aus den zuvor überfüllten Bussen und Straßenbahnen herauszubringen und sie so vor einer Ansteckung zu schützen. Die Folge: Der Radverkehr nahm deutlich zu, nach einer Auswertung des sozialen Netzwerks „Strava“ um bis zu 260 Prozent.
Das vernetzte und digitale Verkehrssystem der Zukunft
Die Mobilität der Zukunft verlangt aber mehr als nur ein paar neue Radwege. Meike Jipp: „Wir müssen die Umstiegsstationen intelligent planen. Das Konzept muss sein, alle Angebote zu integrieren und ganzheitlich zu denken. Wer an einem Bahnhof aus einem Zug aussteigt, sollte dort zusätzliche Verkehrsmittel nutzen können. Weiterfahren vielleicht via Bike-Sharing mit einem elektrisch betriebenen Lastenrad oder mit einem batterie-elektrischen Car-Sharing-Auto.“ Ein solcher multimodaler Ansatz, so die Hoffnung, könnte den öffentlichen Verkehr attraktiver und den Wunsch nach einem eigenen Fahrzeug verschwinden lassen. Dieses Teilen klappt besonders gut, je mehr Angebote zur Verfügung stehen und je besser die Angebote mit dem verstehenden Verkehrssystem kombiniert werden können.
Wie dieses Verkehrsangebot vernetzt funktioniert, sollen uns dann unsere Handys erklären können. Meike Jipp: „Bisher müssen wir uns selber darum kümmern, wie wir von A nach B kommen. Die Digitalisierung bietet jedoch die Chance, dass unsere Smart Devices uns das abnehmen.“
Nachhaltige Mobilitätskonzepte für ländliche Gebiete schaffen
Doch die urbane Mobilität ist nur eine Seite der Medaille. Ländliche Regionen stehen vor noch größeren Herausforderungen. Nahverkehrsangebote sind nur eingeschränkt verfügbar oder werden sogar abgebaut, Busse fahren oft nicht über Landkreisgrenzen hinweg, und der Ausbau der Radwege stockt. Zudem fehlen vielen Kommunen aufgrund der Corona-Pandemie finanzielle Mittel für den ÖPNV-Ausbau. Eine Folge: Der Pkw bleibt das dominierende Verkehrsmittel. 70 Prozent aller Wege auf dem Land werden mit dem Auto zurückgelegt – in der Stadt sind es nur 27 Prozent. Wie kann also die nachhaltige Mobilität der Zukunft auf dem Land aussehen?
Für Meike Jipp ist klar: „Wenn ich die Umgebung ignoriere, kann ich das Problem in der Stadt nicht lösen.“ Auf dem Land gilt noch mehr als in der Stadt, die sogenannte „letzte Meile“ zu überbrücken – also den Weg vom Zuhause bis zur ersten Einstiegsstation. Dazu denken Verkehrsforscher über die Ergänzung des klassischen ÖPNVs durch einen „Bedarfs-ÖPNV“ nach, also zum Beispiel die Meldung via App an einen – vielleicht automatisiert fahrenden – Bus, dass man zu einer bestimmten Uhrzeit an einem bestimmten Ort zusteigen will. Klassische Bushaltestellen werden in diesem Szenario künftig dann kaum mehr nötig sein. Allerdings muss dabei geklärt werden, wie der Zugang zu diesen Angeboten barrierefrei gestaltet werden kann. Auch ältere oder bildungsferne Menschen oder solche mit geringen deutschen Sprachkenntnissen müssen diese neuen Angebote nutzen können und dürfen nicht abgehängt werden.
Drohnen und Lufttaxis als Ergänzung im Warenverkehr
Die Mobilität der Zukunft ist allerdings nicht auf den Personenverkehr begrenzt. Das DLR-Institut für Verkehrsforschung hat Menschen befragt, ob und wie sich ihr Verhalten nach dem Ende der Pandemie wohl ändern werde – das Ergebnis, so Meike Jipp: „Die Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs dürfte wieder so stark werden wie vorher, das Shopping-Verhalten, also der vermehrte Online-Einkauf mit Lieferdiensten, wird bleiben.“ Und das heißt, dass man den gewachsenen Warenverkehr intelligent lenken muss. Hier kann die dritte Dimension ins Spiel kommen: Der auch innerstädtische Verkehr in der Luft mit Drohnen und Lufttaxis.
Auch hier gilt: Die Menschen müssen mitmachen. Meike Jipp: „Alles fängt mit der Akzeptanz an. Da fliegt etwas über meinen Kopf hinweg, wie sicher ist das, wie laut ist das – was also sind die Menschen bereit zu akzeptieren?“ Außerdem spielen die Knotenpunkte eine Rolle. Wie verläuft der Übergabeprozess bei der Lieferung? Eher, als dass die Drohne mein Paket vor der Haustür fallen lässt, kann man sich in diesem Szenario kleine Depotstationen vorstellen – bei denen dann möglicherweise wieder Lastenräder mit Elektroantrieb zum Ausleihen dastehen.
Eine Prognose, in welchem Jahr diese Visionen Wirklichkeit werden, ist schwierig. Denn es geht nicht nur darum, wann die nötigen Technologien zur Verfügung stehen werden, sondern auch um die Frage, wie die Gesellschaft die neuen Mobilitätskonzepte annehmen wird. Aber wenn dann tatsächlich der Waren- und der individuelle Personenverkehr mit Autos weitgehend aus der Stadt der Zukunft verschwunden sind, ist dort Platz. Platz, der früher für Parkraum vorgehalten wurde und nun genutzt werden kann – zum Wohnen, für Grünflächen, Begegnungsräume, Spielplätze und mehr Raum für Fußgänger und Radfahrer. Erste Pilotprojekte und Befragungen zeigen, dass fast die Hälfte der Bürgerinnen und Bürger die Umgestaltung des öffentlichen Raums zu solchen Stadtplätzen befürwortet. Bei jüngeren Menschen ist die Zustimmung deutlich höher.
Das Verkehrskonzept der Zukunft beinhaltet für Meike Jipp „ein vielfältiges Angebot mit einzelnen Verkehrsbausteinen, die nachhaltig sowie intelligent miteinander vernetzt sind und das für die Menschen einfach zu bedienen ist.“ Viele Städte und Kommunen, aber auch erste Bundesländer wie Brandenburg greifen diesen Ansatz auf und erarbeiten eigene Mobilitätsgesetze und Strategien für eine klimafreundliche Mobilität. Der Wille für eine echte Verkehrswende ist da – in der Stadt wie auf dem Land.
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