Portrait
„Leave of absence“
Hinter diesen drei Worten im Lebenslauf der Hirnforscherin Nataliia Fedorchenko verbergen sich Krieg und Flucht. Und die Hoffnung darauf, ihr Wissen, dass sie nun am Forschungszentrum Jülich ins Human Brain Project einbringt, nutzen zu können, um beim Wiederaufbau der Ukraine mit anpacken zu können.
Der Anruf erreichte Nataliia Fedorchenko auf der Flucht, im Zug irgendwo zwischen Kiew und der polnischen Grenze. Es war eine amerikanische Nummer auf ihrem Display, am anderen Ende meldete sich Babak Kateb. Der Gründer und Präsident der Society for Brain Mapping and Therapeutics ist unter Neurowissenschaftlern eine prominente Persönlichkeit. „Er ist im iranisch-irakischen Krieg in die USA geflüchtet, wo er später eine wichtige Rolle bei der Gründung von Barack Obamas Brain-Initiative spielte“, sagt Nataliia Fedorchenko. Kateb rief sie aus Amerika an, um sie darin zu bestärken, dass sie mit der Flucht die richtige Entscheidung getroffen habe – und belegte das mit seinem eigenen Beispiel: „Er sagte mir: ‚Wenn man in Sicherheit ist, kann man etwas für sein Land tun – mehr, als würde man weiter unter ständiger Bedrohung arbeiten.’“
Dieses kurze Telefonat sagt viel aus über die junge Ärztin und Medizin-Forscherin aus der Ukraine: Trotz ihrer gerade einmal 25 Jahre ist sie bestens vernetzt, bei der amerikanischen Society for Brain Mapping and Therapeutics ist sie schon seit eineinhalb Jahren Fellow. Es zeigt auch, wie schwer ihr die Entscheidung zur Flucht aus ihrer Heimat fiel. Inzwischen hat die Ukrainerin eine Stelle am Forschungszentrum Jülich angetreten: Als wissenschaftliche Mitarbeiterin ist sie dort am Institut für Neurowissenschaften und Medizin tätig. Ihr Ziel ist es, möglichst viel zu lernen, während ihres Aufenthaltes in Deutschland.
In Kiew lebte sie ein paar Minuten vom Flughafen entfernt in einer Dreier-WG. Als am 24. Februar in den frühen Morgenstunden die russischen Angriffe begannen, zitterten bei ihr die Wände – in einem Moment, als viele andere im Land noch gar nicht wussten, dass der Krieg begonnen hat. „Wir verbrachten ab dem Moment die Nächte die Keller“, erzählt sie. Während alle weinten, versuchte Nataliia Fedorchenko die Fassung zu bewahren, wie sie es als Ärztin gelernt hatte, und tröstete so gut wie möglich. „Damals gab es die Vermutung, dass die Russen Kiew einkesseln wollen“, erinnert sie sich – das gab für sie den Ausschlag zur Flucht.
Es begann ein Kapitel, in dem Nataliia Fedorchenko immer wieder eins spürte: große Hilfsbereitschaft. Es begann in Polen gleich hinter der Grenze, wo eine Familie sie für ein paar Tage bei sich aufnahm. „Die älteste Tochter will Ärztin werden, und sie hat mein Englisch für ihre Eltern übersetzt“, erinnert sich Fedorchenko. Sie erzählte der jungen Polin vom Arztberuf und ihrem eigenen Werdegang: Davon, dass sie seit einer Standarduntersuchung, bei der sie sieben Jahre alt war und einer faszinierenden jungen Ärztin begegnete, Medizin studieren wollte. Davon, wie sie in der Schule im Englischunterricht über die Gehirnfunktionen sprachen und sie genau spürte, dass sie sich damit eingehender beschäftigen wollte. Davon, wie ihr Großvater zwei Schlaganfälle erlitt und sie als Teenager mithalf, ihn zu pflegen – und wie sie an seinem Krankenbett getrieben war vom Wunsch, genau zu verstehen, was da im Kopf ihres Opas passiert. Davon, dass sie später als Notfall-Ärztin auf einer Schlaganfall-Station arbeitete und wie sie jeden Tag ausgepowert vom Dienst nach Hause kam, belastet von den Schicksalen ihrer Patienten. Und wie sie daran merkte, dass sie lieber in die Medizinforschung gehen wollte.
Kurz nach ihrer Ankunft in Polen meldete sich eine Freundin aus Schultagen bei Nataliia Fedorchenko. Sie lebe seit einigen Jahren in Deutschland, ob sie nicht bei ihr unterschlüpfen wolle. Per Bahn reiste sie weiter nach Deutschland, und noch heute ist sie gerührt davon, wie ihr auf der Reise immer wieder Passanten ihre Hilfe angeboten haben. Hier in Deutschland hat sie auch wieder ihr Hobby von früher aufgenommen: Sie malt Bilder – für sie ein Weg, mit dem Krieg und den furchtbaren Nachrichten aus der Heimat klarzukommen.
Am Forschungszentrum Jülich arbeitet Nataliia Fedorchenko jetzt am Human Brain Project mit. Wieder spielte die Society for Brain Mapping and Therapeutics eine Rolle: Babak Kateb stellte den Kontakt zur Hirnforscherin Katrin Amunts her, die Nataliia Fedorchenko nach Jülich holte. Beim Human Brain Project, das Katrin Amunts als wissenschaftliche Direktorin leitet, koordiniert Nataliia Fedorchenko nun hauptverantwortlich den Publikationsprozess eines Papers, das sich um die Zukunft der Neurowissenschaften dreht. „Derzeit sind 62 Autoren aus vielen Ländern beteiligt, und ich bin zuständig für die enge Abstimmung mit ihnen“, sagt sie.
Wann sie sicher in die Ukraine zurückkehren kann, ist ungewiss. „Ich stehe am Anfang meiner Karriere - diese Zeit ist eine sehr wichtige Phase. Darum konzentriere ich mich jetzt darauf, so produktiv wie möglich zu sein und mich bestmöglich weiterzubilden.“ In ihren Lebenslauf hat sie zwischen all den bemerkenswerten Karriereschritten aus der Vergangenheit nur drei Worte verwendet, um die dramatische Geschichte ihrer Flucht zu benennen. Seit 2021, schreibt sie dort, arbeitet sie an ihrer Doktorarbeit über die Coronafolgen bei Schlaganfall-Patienten. Derzeit: „Leave of absence“.
Drei Worte, hinter denen sich Krieg und Flucht verbergen. Und die Hoffnung darauf, in Zukunft mit ihrem gewonnenen Wissen beim Wiederaufbau der Ukraine mit anpacken zu können.
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