Krebsforscher bringen Krebs auf den Markt
Herr Lyko, Frau Tönges, wie kommt man als Wissenschaftler:in einer Einrichtung, die sich der Erforschung von Krebserkrankungen verschrieben hat, ausgerechnet auf die Idee, Krebstiere zu züchten?
Frank Lyko: In der Epigenetik erforschen wir, wie Zellen ihre bestimmten und spezifischen Funktionen erlangen. Und beschäftigen uns mit der Frage, welchen Einfluss die Umwelt auf die Gene hat. Bei sogenannten epigenetischen Mechanismen, bleibt zwar der genetische Code erhalten, doch werden äußere Bereiche des Erbguts verändert, die unter Umständen die Genaktivität beeinflussen können. Bei der Entstehung von Tumoren, wissen wir, dass die epigenetischen Prozesse gestört werden. Das bietet neue Ansätze für das Verständnis der Krankheitsprozesse, sowie neue Diagnosen und Therapiemöglichkeiten. Auf der Suche nach neuen Modellsystemen, hat mich ein Bekannter auf den Marmorkrebs aufmerksam gemacht. Der ist insofern relevant, weil er sich durch Klonen fortpflanzt. Das heißt, jedes Tier stammt von einem Muttertier ab. Überraschend dabei ist, dass sich die Tiere an alle möglichen Umweltbedingungen anpassen, und zwar innerhalb weniger Monate. Und hier haben wir die Parallele zwischen Krebs und Krebs. Auch Tumore entwickeln sich als Klone, eine einzige Zelle ist der Ursprung für den Tumor. Sie vermehrt sich klonal immer weiter und passt sich epigenetisch an. Um diese Mechanismen zu untersuchen, haben wir hier im Labor eine Marmorkrebskolonie etabliert.
Sina Tönges: Als Teil meiner Promotion bin ich dafür an vielen Seen in Deutschland gewesen. Nächtelang auf der Suche nach den Krebsen. Zusammen mit einer madagassischen Kollegin. Auf Madagaskar sind die Tiere interessanterweise auch sehr weit verbreitet. Und werden gegessen. Nach anfänglichem Zögern sind sie dort heute ein wahnsinnig populäres Nahrungsmittel. Und wenn ich die Tiere irgendwo vorstelle, lautet die wohl häufigste Frage: Kann man die auch essen und schmecken die denn? Irgendwann haben wir gedacht, das müssen wir ausprobieren. Mein Bruder ist Koch. Den habe ich gefragt, ob er ein paar zubereiten kann. Das hat er gemacht. Das hat wunderbar funktioniert. Und sie waren sehr lecker. So entstand die Idee, dass wir die Tiere auch außerhalb der epigenetischen Forschung nutzen könnten.
Was macht den Marmorkrebs so besonders, dass Sie mit ihm den Weg zum Spin-off wagen?
Frank Lyko: Der Marmorkrebs ist extrem anspruchslos. Und er ist ein guter Futterkonvertierer. Für ein Kilogramm Marmorkrebs braucht es lediglich 1,4 Kilogramm Futter. Das ist eine extrem effiziente Art und Weise, Nahrung umzusetzen. Und auch die parthenogenetische, also eingeschlechtliche, Fortpflanzungsweise ist ein Pluspunkt. Es gibt nur Weibchen. Das bedeutet: wenig Aggressivität und damit wenig Stress.
Sina Tönges: Genau. Rein weibliche Populationen sind oft weniger aggressiv als gemischte. Deshalb versucht man beispielsweise auch, Lachse oder Garnelen genetisch so zu modifizieren, dass sie rein weiblich sind. Aber die Parthenogenese beim Marmorkrebs bringt noch weitere Vorteile. Dass sich die Tiere genetisch gleichen, zeigt sich auch im Wachstum. Wir erhalten auch auf Dauer sehr homogene Produkte.
Was sind das alles für Produkte, die Sie da im Sinn haben?
Sina Tönges: Unser Konzept sieht vor, das ganze Tier zu verwerten. Da ist natürlich das Fleisch. Wir haben bereits testweise drei verschiedenen Varianten einer Pastasoße eingekocht. Dann kommt das Chitin. Das ist wahrscheinlich der gefragteste Rohstoff für Bioplastik. Er steckt in den Panzern von Krebstieren und wird bisher vor allem aus den Schalenresten der Garnelenverarbeitung gewonnen. Wir haben den Marmorkrebs daraufhin untersucht und festgestellt, dass er dreimal mehr Chitin enthält als eine Garnele. In einem ersten Product Showcase haben wir zusammen mit einer Firma in Brasilien daraus biologisch abbaubare Strohhalme entwickelt.
Frank Lyko: Ein weiterer Rohstoff ist Astaxanthin. Wenn man einen Hummer in den Kochtopf wirft, dann wird er rot. Der Grund dafür ist eben dieser Farbstoff, der in den Schalen aller Krustentiere enthalten ist, dort aber von den Proteinen überdeckt wird. Beim Erhitzen wird die Struktur der Proteine zerstört und die Farbe kommt zum Vorschein. Marmorkrebsschalen enthalten unwahrscheinlich viel Astaxanthin. Das ist ein starkes Antioxidans, das nicht nur als Nahrungsmittelergänzungsmittel, sondern auch als Lebensmittelfarbstoff begehrt ist. Auch das wollen wir verwerten. Wir bauen also auf zwei technologische Kernkomponenten. Das eine ist die Aquakulturproduktion. Hier produzieren wir die Tiere in einem geschlossenen System. Das zweite ist die Bioraffinerie. Diese schließt die Marmorkrebse in ihre Bestandteile Fleisch, Chitin, Astaxanthin, Proteinreste und Mineralien auf.
Bleiben wir kurz bei der Aquakulturproduktion. Wie kann man sich das vorstellen?
Frank Lyko: Der erste Ratschlag, den wir vor zwei Jahren von den Experten hörten, war: Schickt die Tiere doch einfach nach Südostasien. Da gibt es Leute, die kennen sich damit aus. Die bringen sie auf irgendein Feld aus und dann funktioniert das. Aber das wollten wir schon wegen der ökologischen Bedenken gegen diese Form der Aquakultur nicht. Außerdem ist der Marmorkrebs eine invasive Art. Deshalb wollen wir die Tiere nicht in die Natur entlassen. Unser Fokus lag also von Anfang an auf geschlossenen Aquakultursystemen. Dafür sind wir nach Südostasien gereist und haben uns dort Shrimp-Farmen angeschaut. Aber Shrimps brauchen eine sehr hohe Wassersäule. Das sind in der Regel mehrere Meter hohe Tanks. Flusskrebse hingegen sind Bodenbewohner. Sie schwimmen nicht. Warum sollen wir dann so viel Wasser umwälzen und saubermachen, wenn es auch mit viel weniger geht. Wir wollten also alles von Beginn an radikal anders machen. Die technische Lösung dafür haben wir dann nicht in Südostasien, sondern bei einer Firma in Wien gefunden. Mit dieser arbeiten wir nun an einer maßgeschneiderten Anlage für unsere Flusskrebse. Es ist eine vertikale Anlage, bei der wir die Tiere in einer Art Schubladen halten und diese übereinanderstapeln. Das alles passt in einen Standardfrachtcontainer. Da füllt man einmal Wasser ein, gibt die Krebse hinzu, schließt den Strom an und füttert regelmäßig. Dann produziert die Einheit autark. Und sie ist beliebig stapel- und kombinierbar. Denn die Container für den Frachtverkehr sind international standardisiert.
Sina Tönges: Das geschlossene System bringt uns viele Vorteile. Außer einer minimalen Verdunstung entsteht kein Wasserverlust. Das machts es natürlich auch für Gegenden attraktiv, wo wenig Wasser zur Verfügung steht. In der Wüste zum Beispiel. Durch die Kontrolle des Wassers müssen wir auch keine Antibiotika zusetzen. Wir haben eine viel bessere Kontrolle über das Futter. Alles zusammengenommen ergibt das ein ganz anderes Produkt. Ein viel gesicherteres Produkt. Das ist unser Ziel.
Und die Bioraffinerie?
Frank Lyko: Auch da haben wir schon viel Vorarbeit geleistet. Zum Beispiel beim Chitin. Da gibt es bereits einen großen Industriezweig in Südostasien, der es aus Shrimpschalen extrahiert. Mit viel Natronlauge und viel Salzsäure. Das ist wenig umweltfreundlich. Das wollten wir nicht. Deshalb haben wir ein alternatives Protokoll entwickelt, das sehr viel umweltschonender ist. Wir melden es gerade zum Patent an. Die Bioraffinerie haben wir mittlerweile in unserem Labor etabliert.
Sie haben bereits viel Forschung und Entwicklung in Ihr Projekt gesteckt. Wie sieht es aber mit dem Business-Aspekt aus?
Frank Lyko: Wir sind jetzt Teil des Helmholtz-Spin-off-Programms und konnten einen tollen Coach, Lukas Bosch, für unser Team gewinnen. Er unterstützt viele Firmen, die wirklich nachhaltig arbeiten wollen. Er coacht unser Team regelmäßig in Bezug auf die Geschäftsfähigkeit und öffnet uns ein Netzwerk.
Sina Tönges: Und wir haben uns jetzt für einen Accelerator beworben. Der heißt Seedhouse und ist in Osnabrück. Das ist DER deutsche Accelerator für Food- und Agritech und extrem kompetitiv. Nur 10 Prozent der Bewerbungen werden angenommen. Im Dezember haben wir die Zusage erhalten, dass wir angenommen wurden. Ich denke, das spricht für unsere Innovationskraft.
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