Direkt zum Seiteninhalt springen

Theorie

Im Universum des Benjamin Button

Bild: Corbis

Die Zeit läuft vorwärts. Das muss sie aber nicht, behaupten Physiker. Vielleicht gibt es noch ein zweites Universum, in dem sie rückwärts läuft.

Sein Haar färbt sich von grau zu blond, seine Haut wird glatter, sein Körper kräftiger. Benjamin altert nicht. Er wird jünger. Seine Lebensuhr läuft rückwärts. Im Film "Der seltsame Fall des Benjamin Button" ist das möglich, Regisseure experimentieren häufig mit der Zeit. Schon die ersten Filmvorführer machten sich einen Spaß daraus, die Bilder rückwärts laufen zu lassen. Umgestürzte Mauern richteten sich wieder auf, Scherben fügten sich zu Tassen zusammen und sprangen zurück in die Hand ihrer Besitzer. Das Publikum lachte, weil das in Wirklichkeit unmöglich ist. Oder doch nicht?

Im Oktober ist in einer der renommiertesten Fachzeitschriften für Physik, den Physical Review Letters, eine neue Theorie über den Zeitpfeil erschienen, also die zeitliche Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Autoren Julian Barbour, Tim Koslowski und Flavio Mercati befassen sich in dem Text mit einem der großen Rätsel der Physik: Warum erleben Menschen Zeit nur in eine Richtung?

Diese Frage ist für Physiker weniger abwegig, als sie auf den ersten Blick zu sein scheint. Für die wichtigsten Gesetze der Physik - vom Gravitationsgesetz über die Relativitätstheorie bis zur Quantenmechanik - spielt die Richtung der Zeit keine Rolle. Sie würden genauso funktionieren, wenn die Zeit in die umgekehrte Richtung laufen würde.

Gleichzeitig hat jede Ursache eine Wirkung. Alles, was aus vielen Teilchen besteht, geht vom geordneten in den ungeordneten Zustand über. Ordnung nimmt ab. Erklärt wird das durch den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, einem Gebiet der klassischen Physik, das die verschiedenen Formen der Energie und ihrer Umverteilung beschreibt. Es kann aber auch jeder beobachten, der eine Wohnung aufräumen muss, seinen Kaffee vergisst oder einen Spiegel besitzt: Kaffee wird kalt, der Körper wird alt.

Es handelt sich um eine Beobachtung, die man überall auf der Welt machen kann, hier auf der Erde genauso wie auf dem Mond. Man kann sie deshalb für eine prinzipielle Eigenschaft der Natur halten: Die Zeit läuft vorwärts. Dass dem nicht so sein muss, haben die Physiker nun in einem Gedankenexperiment gezeigt. Am Computer stellten sie eine Situation nach, die dem Urknall ähnelt. Dabei zeigte sich, dass die Teilchen von diesem Punkt an durch die Schwerkraft in zwei Richtungen expandierten. In beide Richtungen entstanden komplexe Systeme, ähnlich denen von Galaxien.

Die Physiker folgerten: Aus dem Urknall können sich zwei Universen entwickelt haben, die sich stark ähneln, nur dass in dem einen die Zeit vorwärts läuft, in dem anderen rückwärts. Die Richtung des Zeitpfeils wird nicht von der Thermodynamik bestimmt, sondern von der Schwerkraft. Diese Theorie würde erklären, warum man sich in unserem Universum zwar im Raum vorwärts und rückwärts bewegen kann, nicht aber in der Zeit.

Die Zeit könnte also in beide Richtungen laufen. Dass Menschen nur die eine beobachten, liegt daran, dass sie nur ihr Universum kennen. Man sei bisher nicht weit genug zurückgetreten, um das Gesamtbild zu sehen, erklärt Julian Barbour, einer der Autoren der Theorie. "Ich war selber überrascht, wie simpel die Lösung für das Zeitpfeil-Problem sein könnte", sagt er - vorausgesetzt zumindest, der Ansatz sollte wirklich die Lösung sein, was es noch weiter zu prüfen gilt, wie er selbst sagt. Beobachten wird man eine rückwärts laufende Zeit nie, selbst wenn sie existiert. "Wir sind gefangen in unserer Erfahrung. Wir können nicht auf die andere Seite des Urknalls", sagt Barbour. Das hält er aber nicht für ein Problem. Es sei häufig so, dass man etwas nicht direkt beobachten, sondern nur eine möglichst schlüssige Theorie bilden könne. Die Rückmeldungen, die er nach der Veröffentlichung in der Fachzeitung bekommen habe, seien "ermutigend" gewesen.

Kritik kommt aus Deutschland: H. Dieter Zeh, emeritierter Physik-Professor der Universität Heidelberg und ein Freund Julian Barbours, der sich seit mehr als 30 Jahren mit dem Zeitpfeil auseinandersetzt, nennt den Versuch eine "Spielerei auf allzu vereinfachter Ebene". Er sagt: "Das Modell ist nicht sehr realistisch." Beim Urknall hätten noch mehr Faktoren eine Rolle gespielt, die in dem Modell nicht berücksichtig würden. Etwa Strahlung oder irreversible Quantenphänomene. Den Autoren sei das bewusst, sie würden aber nicht erklären, warum das Ergebnis ihres numerischen Beispiels selbst im Rahmen dieses vereinfachten Modells "typisch" sein soll. Zeh kritisiert, dass das Modell nahelegt, der Urknall hätte sich ganz natürlich ergeben, dabei basiere er doch selbst wiederum auf einer in vielerlei Hinsicht ganz untypischen Anfangsannahme. "Es reibt ein bisschen an den Grundsätzen, aber es ist nicht so dramatisch. Dafür wird es keinen Nobelpreis geben und das erschüttert keine Grundfesten", sagt Frank Maas, Professor am Institut für Kernphysik der Mainzer Johannes Gutenberg-Universität und Direktor des Helmholtz-Instituts Mainz.

Für die Naturgesetze hätte auch der umgekehrte Zeitpfeil keine Bedeutung. Die Unordnung würde auch in einem solchen Universum zunehmen. Es wäre also nicht wie in einem rückwärts laufenden Film, bei dem sich aus Scherben eine Tasse zusammenfügt und sich ein Steinhaufen zu einer Mauer verbaut. "Für die Unordnung gibt es mehr Möglichkeiten als für die Ordnung", sagt Kai Zuber, Professor am Institut für Kern- und Teilchenphysik der TU Dresden. Eine Tasse kann auf tausend Weisen zersplittern, aber nur auf eine zusammengesetzt werden. Dass sich Scherben in genau diese Form fügen, ist nicht unmöglich, aber unwahrscheinlich. "Was es konkret bedeuten würde und ob dort überhaupt Leben möglich wäre, dazu wage ich keine Aussage", sagt er. Selbst wenn es Menschen gäbe, für die die Zeit - aus unserer Sicht - rückwärts läuft, könnten wir nicht mit ihnen in Kontakt treten, denn man befindet sich entweder in dem einen oder dem anderen System. Das Leben des Benjamin Button bleibt eine Fiktion.

Leser:innenkommentare