Legasthenie
Im Kampf mit den Buchstaben

Bild: Gray Waters / Ikon Images / Corbis
Legastheniker bekommen oft erst Hilfe, wenn es zu spät ist. Endlich arbeiten Forscher daran, die Lese-Rechtschreib-Schwäche frühzeitig zu erkennen – und setzen dabei auf eine Mischung aus psychologischen Tests und Hightech-Instrumenten.
René ist für den Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie ein klassischer Fall. An seinem Beispiel illustriert der Verband das Problem, das vielen Betroffenen zu schaffen macht: Eine Lese- Rechtschreib-Schwäche (LRS) wird oft erst spät erkannt. Genauso wie René müssen die Kinder deshalb unnötig lange mit den Buchstaben ringen, bevor sie eine Therapie beginnen können. Wie sich die LRS frühzeitig erkennen lässt, was genau sie verursacht und was den Betroffenen am besten hilft – das sind Fragen, an denen Forscher derzeit mit Hochdruck arbeiten.
<b>Gestörte Durchblutung</b> 3D-Rekonstruktion eines gesunden männlichen Gehirns (links) und des Gehirns eines Mannes mit Lesestörung (rechts), während beide Personen vorlesen. Beim gesunden Gehirn steigt die Gehirndurchblutung in Bereichen, die für Sprache, Hören und Sehen zuständig sind. Beim legasthenen Gehirn tritt außerdem eine Zunahme des Blutflusses im Pallidum (P) auf, das eigentlich an der Steuerung unbewusster Bewegungen beteiligt ist. Bild: SOVEREIGN/ISM/Agentur Focus
„Wir müssen Kinder mit Lese- Rechtschreib-Schwächen schon vor der Einschulung identifizieren und sie gezielt fördern“
Nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen sieht es so aus, als sei eine Früherkennung möglich – das wäre für die Betroffenen eine wichtige Neuerung. „Derzeit wird in den ersten beiden Schuljahren häufig noch keine LRS-Diagnostik durchgeführt“, sagt Stefan Heim. Der Psychologe arbeitet am Forschungszentrum Jülich und an der Uniklinik der RWTH Aachen. „Eine Legasthenie wird meistens erst in der dritten Klasse diagnostiziert – das Ziel sollte aber sein, Kinder mit Lese- Rechtschreib-Schwächen schon vor der Einschulung zu identifizieren, um sie gezielt zu fördern.“ Hierfür haben Forscher in den vergangenen Jahren psychologische Tests entwickelt, mit denen einige Monate vor der Einschulung der bewusste Umgang mit Lauten sowie das Satzverständnis und das Gedächtnis geprüft werden.
Solche Tests sind die eine Möglichkeit, mit der Wissenschaftler versuchen, der Legasthenie auf die Schliche zu kommen. Einen zweiten Weg bieten bildgebende Verfahren, mit denen die Forscher Einblicke in das Gehirn gewinnen: Mit der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT), der Diffusions-Tensor-Bildgebung und der Elektroenzephalographie können sie nachvollziehen, wie aktiv verschiedene Gehirnareale sind. Noch könne man damit zwar nicht vorhersagen, wie sich einzelne Kinder entwickeln würden, räumt Helmholtz-Forscher Stefan Heim ein – schon bald aber könnte das durchaus möglich sein.
Mit den Hightech-Instrumenten untersuchen die Forscher, was beim Lesen und Schreiben im Gehirn geschieht. Dabei haben sie ein ganzes Lesenetzwerk ausfindig gemacht, das die unterschiedlichen Areale miteinander verbindet. Bei gesunden Probanden ist die linke Gehirnhälfte beim Lesen höchst aktiv: Auf Bildern ihrer Gehirne leuchten der untere Stirnlappen, der obere und mittlere Schläfenlappen und der Bereich zwischen Schläfenlappen und Scheitellappen hell auf. Wenn Kinder das Lesen lernen, entwickelt das sogenannte visuelle Wortformareal eine bemerkenswerte Aktivität – es befindet sich in der linken Gehirnhälfte zwischen Schläfenlappen und Hinterhauptslappen.
Bis sich bildgebende Verfahren auch auf Einzelpersonen anwenden lassen, führen die Forscher Studien an ganzen Gruppen leseschwacher Kinder durch, um Gemeinsamkeiten in deren Hirnfunktionen herauszuarbeiten. „Wir reden von verschiedenen kognitiven Profilen“, erläutert Stefan Heim. „In vielen Studien sehen wir, dass sich diese auch im Gehirn widerspiegeln. Würde man es schaffen, Kinder mit dem gleichen kognitiven Profil mit bildgebenden Verfahren in einer Gruppe zu untersuchen, hätte man eine bessere Chance, auch bei einzelnen Kindern zu erkennen, was man heutzutage als Gruppenunterschied findet.“
Eine große Herausforderung ist es jetzt, für die betroffenen Kinder eine wirkungsvolle Therapie zu finden. Das Problem liegt gerade darin, dass das Krankheitsbild so differenziert ist. Bei jedem Kind träten andere Schwierigkeiten auf, sagt Forscher Stefan Heim: Tut sich das Kind damit schwer, den Zusammenhang von Worten und Lauten zu erkennen und Worte in ihre einzelnen Lautbestandteile zu zergliedern – oder hat es eher Schwierigkeiten, das geschriebene Wort zu erkennen? „Dann kann man ein Training nutzen, das gezielt diese Schwäche behebt“, sagt Heim.
<b>Spielend lernen</b> Mit dem Computerspiel Graphogame können Kinder, die unter Legasthenie leiden, den Zusammenhang von geschriebenen Lauten und deren Klang trainieren. Bild: GraphoGame
Beachtliche Erfolge hat das Team um Silvia Brem mit dem Computerspiel Graphogame erzielt, das finnische Forscher entwickelt haben. Dabei lenken die Kinder ihre Spielfigur durch eine virtuelle Landschaft, öffnen Schatztruhen und lösen Rätsel. An einigen Stellen müssen sie Laute den passenden Buchstaben zuordnen – nur dann kommen sie ein Level weiter. Mit diesem Spiel konnte Brem belegen, dass Kinder bereits gedruckte Worte erkennen, bevor sie sie entziffern können. In ihrer Studie ließ sie Kindergartenkinder acht Wochen lang den Zusammenhang von geschriebenen Lauten und deren Klang üben. Der Effekt war beachtlich: Obwohl die Kinder insgesamt nur weniger als vier Stunden trainierten, war danach jene Gehirnregion deutlich aktiver, die auch bei Erwachsenen für das Leseverständnis verantwortlich ist. Wenn das Gehirn schon so früh die Buchstaben mit den dazugehörigen Lauten verknüpft, lässt sich das für die Behandlung der Legasthenie verwenden.
Die Pädagogin Katharina Galuschka hat herausgefunden, dass besonders solche Trainingsformen wirksam sind, die den Zusammenhang von Buchstaben und Lauten trainieren. „Zu erkennen, wie Wortbestandteile und Laute zusammenhängen, steht ganz am Anfang des Lesenlernens“, erläutert Galuschka, die als Pädagogin an der Technischen Universität München forscht. In einer großen Metastudie zur Wirksamkeit von Legasthenie- Behandlungen kommt sie zu einem eindeutigen Ergebnis: Trainings wie Graphogame seien sinnvoll für Kinder, denen die Zuordnung von Lauten schwer fällt. Die Pädagogin rät jedoch zur Vorsicht: „Neue Medien und Computer eröffnen in der Lerntherapie Möglichkeiten, die es bisher nicht gab. Meistens ist aber deren Wirksamkeit nicht geprüft. Deshalb bleibt es wichtig, dass auch ein zertifizierter Therapeut die Kinder behandelt.“
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