Frühwarnsystem durch Abwasseranalysen
Wie viele Menschen einer Region haben sich mit COVID-19 infiziert? Forscher wollen diese Frage durch Abwasseranalysen beantworten. Bei einer zweiten Welle könnte ein solches Frühwarnsystem von großem Vorteil sein.
Wo können die Kontaktbeschränkungen für Menschen in welchem Maße wieder gelockert werden, damit sich das soziale und das Wirtschaftsleben weiter entfalten kann? Weltweit steht diese Frage derzeit im Fokus. Um das Risiko unkontrollierter Ausbrüche besser einschätzen zu können, braucht es vor allem Informationen darüber, in welcher Region wie viele Menschen mit dem neuartigen Coronavirus infiziert sind. Flächendeckende Massentests könnten solche Daten liefern, doch die sind aufwändig und teuer. Wissenschaftler vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) arbeiten derzeit gemeinsam mit Kollegen der TU Dresden, der Deutschen Vereinigung für Wasserwirtschaft, Abwasser und Abfall (DWA) sowie Kläranlagenbetreibern an einer Lösung, die sich bereits in anderen Zusammenhängen bewährt hat: Sie wollen bundesweit aus Abwasserproben auf den Infektionsgrad der Bevölkerung schließen.
Im Abwasser fidnen sich Bruchstücke des Virus-Erbgutes
Dass dieser Ansatz funktionieren kann, zeigte sich im Rahmen von Drogenscreenings und im Zusammenhang mit Polio-Impfmaßnahmen. „Absolut neu hingegen ist, diese Methode nun bei einem Virus anzuwenden, das vor allem die Lunge befällt“, erläutert Hauke Harms, Leiter des Departments Umweltmikrobiologie am UFZ. Mittlerweile ist klar, dass relevante Mengen an Virus- Material auch in den Ausscheidungen zu finden sind. Im Februar dieses Jahres berichteten niederländische Forscher erstmals, dass sie wenige Infizierte pro 100.000 Personen anhand des Corona-Erbguts in Abwässern aus sechs Kläranlagen mit hoher Empfindlichkeit detektiert haben. Dies wird nun in deutlich größerem Maßstab weitergeführt. Die Wissenschaftler suchen gezielt nach dem in Ribonukleinsäure gespeicherten genetischen Erbgut des Virus. Diese RNA ähnelt der menschlichen DNA, ist jedoch wesentlich labiler. Wer vom Coronavirus befallen wurde, scheidet Spuren seines Erbguts mit jedem Stuhlgang aus. Infektiös ist dieser dadurch nicht.
In Abwasserproben tritt die RNA des Virus nur in geringsten Konzentrationen auf, insbesondere wenn der Anteil infizierter Menschen im Bereich einer bestimmten Kläranlage gering ist. Die Wissenschaftler orientieren sich an einer relevanten Marke, die erfasst werden muss: Bund und Länder haben beschlossen, strengere Maßnahmen in Kraft zu setzen, wenn in einer Region binnen einer Woche mehr als 50 Neuinfizierte pro 100.000 Einwohner erfasst werden. „Die hierbei zu erwartende Dosis an Viren beziehungsweise RNA im Abwasser muss erfasst werden können, um die Analysen als Instrument für das entsprechende Interventionsmanagement nutzen zu können“, sagt Harms. „Das erreichen wir mittlerweile.“ Das neue Verfahren könnte also helfen, Ausbrüche von dieser Dimension zu erfassen. Und das weit vor den Gesundheitsämtern, die ja auf Test zurückgreifen und so immer 1-2 Wochen hinter dem eigentlichen Infektionsgeschehen zurückliegen. Ein weiterer Vorteil: Auch die Dunkelziffer, also die Anzahl der Symptomlosen und nicht getesteten Personen wird erfasst.
Das Corona-Erbgut erfassen die Wissenschaftler mit der sogenannten PCR-Analysenmethode: Sie verdoppeln die RNA im Reagenzglas bis ihre Konzentration messbar wird. „Auf Basis bekannter Infektionszahlen, die beispielsweise aus Stichprobenstudien an der Gesamtbevölkerung stammen, sind dann Vorhersagen über den aktuellen Stand der Infektionen möglich“, sagt Harms. „Unter anderem haben wir auch ‚historische‘ Daten zugrunde gelegt – etwa aus stark betroffenen Kreis Heinsberg – um die von uns erhobenen Daten einordnen zu können.“
Durch ein kleinteiliges Frühwarnsystem ließen sich die Folgen von Lockerungsmaßnahmen beobachten und wenn nötig gegensteuern
Doch welche Menge an Corona-Spuren in einer Abwasserprobe lässt auf wie viele infizierte Menschen schließen? Die Zusammensetzung des Abwassers in einer Kläranlage schwankt stark. Bei starkem Regen etwa sinkt der Anteil des Abwassers aus Haushalten erheblich. „Um uns hier orientieren zu können, nutzen wir als Referenz das Virus eines Darmbakteriums, dass ohnehin bei jedem Stuhlgang ausgeschieden wird“, erläutert der Mikrobiologie. „An dessen Konzentration lässt sich maßstäblich der Anteil der Corona-RNA einordnen.“
Auch der beste Zeitpunkt, wann eine Probe entnommen werden sollte, ist relevant – und je nach Kläranlage ein anderer. In der zweiten Maihälfte hatten die Wissenschaftler an rund 20 Anlagen den Probebetrieb mit täglicher Entnahme begonnen. In kleineren Kommunen kommt Abwasser von rund 5.000 Einwohnern in einem Klärwerk zusammen, die Wege vom Hausanschluss dorthin sind eher kurz. In Dresden hingegen sind Haushalte mit etwa 600.000 Bewohnern an jene Anlage angeschlossen, wo Proben entnommen werden. Es dauert Stunden, bis das morgendliche Toilettenwasser dort ankommt. Um den täglichen Peak abzupassen greifen die Forscher auf die Erfahrungswerte der Anlagenbetreiber und Modellberechnungen zurück.
Offen ist bislang noch, welche Methode zur Aufbereitung der Proben die leistungsfähigste ist. „Das muss noch einfacher und schneller werden“, betont Harms. „Mit gerade mal zehn Proben sind bislang zwei Menschen einen ganzen Tag lang beschäftigt.“ Von ursprünglich drei parallel getesteten Verfahren sind nur noch zwei im Rennen: Bei der Säulenmethode absorbiert eine Membran die RNA aus durchlaufendem Wasser; bei der Fällungsmethode wird die RNA durch Zentrifugation vom Wasser getrennt. Beide Methoden ließen sich auch auf andere Erreger anwenden.
Doch der Blick geht zuerst in Richtung Corona: „Durch Proben von rund 900 Kläranlagen könnten wir etwa 80 Prozent des gesamten Abwasserstroms und damit ein Großteil der Bevölkerung in Deutschland erfassen“, betont Harms. „Damit lässt sich ein dauerhaftes und räumlich kleinteiliges Frühwarnsystem aufbauen, um etwa die Folgen von Lockerungsmaßnahmen zu beobachten und wenn nötig nachzusteuern.“ Derzeit werden alle Analyseschritte im Feld, im Labor und im Computer optimiert, damit möglichst vor dem Eintreten einer möglichen zweiten Pandemie-Welle ein nützliches Warnsystem vorliegt. Reges Interesse von Behörden und Kläranlagenbetreibern liegt jedenfalls bereits vor.
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