Corona-Monitoring
Frühwarnsystem aus der Kläranlage
Das Berliner MDC hat gemeinsam mit den Berliner Wasserbetrieben die Dominanz Omikrons in Berlin frühzeitig kommen sehen. Emanuel Wyler gehört zum Analyseteam und erklärt, was wir über Corona und andere Viren aus dem Abwasser erfahren können
Herr Wyler, Ihren Informationen zufolge lag der Anteil der Omikron-Variante an SARS-CoV-2 in Berlin bereits Ende Dezember bei mehr als 60 Prozent, da lag der Anteil von Omikron in Deutschland den beim RKI gesammelten Laboranalysen zufolge noch im einstelligen Prozentbereich, drei Wochen später dominiert Omikron mit 90 Prozent. Sie sind zu diesem besonders frühen Befund gekommen, indem Sie das Berliner Abwasser analysiert haben. Wie gelingt es, das winzige Coronavirus ausgerechnet dort aufzuspüren?
Wer infiziert ist, scheidet winzige Viruspartikel mit dem Speichel und auch über den Darm aus. So gelangt beim Zähneputzen oder wenn man auf Toilette geht, SARS-CoV-2 ins Abwasser. Klar, wenn man dann im Abwasser eine Probe nimmt, hat man ein wildes Gemisch, die Konzentration von SARS-CoV-2 ist sehr niedrig. Im Abwasser ist deutlich mehr Bakterienerbgut als Virenerbgut enthalten. Und von den Viren machen die sogenannten Pflanzenviren den allergrößten Anteil aus, insbesondere Viren von Gurken, Paprika und Tomaten. Die werden vom menschlichen Körper einfach mit aufgenommen beim Essen, gehen durch den Verdauungstrakt und werden dann unverändert ausgeschieden.
Die Menge an Coronaviruspartikeln in einer Abwasserprobe ist also vergleichsweise niedrig…
Ja, deshalb müssen wir die Viruspartikel erst anreichern und dann das Virus-Erbgut mithilfe der PCR vervielfältigen. In einem nächsten Schritt können wir mit Hochdurchsatz-Sequenzierungen sehen, wie viel welche Virusvariante unter den gefundenen Coronaviren ausmacht. Bei alldem gehen wir im Grunde genauso vor, wie es die Kollegen im Labor mit den Proben aus Nase und Rachen tun.
So lässt sich der Anteil der Varianten bestimmen – lässt sich auch aus der Menge der gefundenen Coronaviren im Abwasser etwas ableiten?
Die Menge Virus im Abwasser hat nur als zeitliche Entwicklung Aussagekraft, ansonsten muss man sie quasi mit der Inzidenz in der Bevölkerung abgleichen und eichen. Wir wissen auch, dass es ein gewisses Infektionsgeschehen braucht, damit wir das Virus im Abwasser überhaupt identifizieren können. Unserer Erfahrung nach liegt die Nachweisgrenze, so wie wir es in Berlin kennen mit dem großen Abwassernetzwerk und entsprechend langen Wegen zwischen Haushalten und Klärwerken, bei einer Inzidenz von ungefähr 50.
Wie lange machen Sie denn die Abwasseranalysen in Bezug auf SARS-CoV-2 schon?
Am MDC seit Februar 2021. Die Berliner Wasserbetriebe sind sehr engagiert in der Abwasseranalyse, zusammen mit dem Berliner Amedes-Labor. Sie überwachen regelmäßig und aus eigenen Mitteln an mehreren Stellen das Abwassernetz und stehen dazu im Austausch mit den Behörden. Abwasseranalysen auf Viren kennt man schon seit den 1990er Jahren, vor allem für Polio. Seit Beginn der Pandemie machen das viele Länder auch für SARS-CoV-2.
Warum fließen die Abwassermessungen noch nicht in die Analyse des RKI zur Coronavirus-Situation oder insbesondere zur Ausbreitung der Omikron-Variante mit ein?
Es gibt in Deutschland viele dezentrale Projekte wie in Berlin, aber keine koordinierte Auswertung. Für aussagekräftige Daten müsste man an mehr Stellen und vor allem häufiger messen. Da müsste Geld in die Hand genommen werden von der Politik, damit man die Analysen noch ausbauen und standardisieren kann – was die EU schon vor einem Jahr empfohlen hat.
Vor wenigen Tagen war eine Anhörung im Berliner Abgeordnetenhaus zu dem Thema, das Ergebnis steht noch aus. Waren Sie bei der Anhörung auch anwesend?
Nein, das haben die Berliner Wasserbetriebe gemacht. Wir als MDC haben die Kollegen aber bei der Vorbereitung und Aufbereitung der bisherigen Ergebnisse und Erkenntnisse unterstützt. Ich sehe unsere Arbeit als Grundlagenforscher*innen auch getan: Wir haben hier einen Impuls gesetzt und gezeigt, dass ein Surveillance-System, also eine Art Abwasserüberwachungssystem, sinnvoll wäre. Dazu haben wir gemeinsam mit den Berliner Wasserbetrieben eine Analyse-Pipeline aufgebaut, die als preprint schon verfügbar ist. Wenn die Abwasserüberwachung tatsächlich aufgebaut und etabliert werden soll, dann sehe ich die Forschung in einer beratenden Rolle, aber die tägliche Surveillance-Arbeit läge dann bei den Kolleginnen und Kollegen der Berliner Wasserbetriebe und den Routine-Diagnostiklaboren.
Welchen Nutzen könnte ein solches Abwasser-Surveillance-System für den weiteren Verlauf der Corona-Pandemie haben?
Man könnte tatsächlich einen zeitnäheren und wohl auch kostengünstigeren Einblick in die Verbreitung des Virus und seiner Varianten gewinnen – und unter Umständen entsprechend früher mit Maßnahmen reagieren, vielleicht sogar beim Einsatz angepasster Impfstoffe.
Lassen sich auch neue Varianten im Abwasser womöglich besser entdecken?
Man kann natürlich die Viren im Abwasser genau untersuchen und nach neuen Varianten fahnden – es werden ja dieselben molekularbiologischen Methoden wie bei der Analyse von anderen Patientenproben verwendet. Und das kann auch schneller sein; Abstriche werden ja meist erst gemacht, wenn man Symptome hat. Aber natürlich ist es auch aufwändig, ins Blaue hinein zu suchen. Wenn es in einer Region aber beim Krankheitsverlauf oder der Krankheitsintensität Auffälligkeiten gibt, kann man auch im Abwasser nach neuen Varianten suchen. Allerdings müssen hier auch noch Qualitätskontrollen vorgeschaltet werden, es ist noch nicht sicher, ob das Viruserbgut im Abwasser tatsächlich so vollständig ist wie das Viruserbgut, das einem Menschen direkt entnommen wurde.
Inwieweit könnte eine Abwasser-Surveillance noch nützlich sein?
Im Abwasser bekommen wir einen zeitnahen Einblick über das Infektionsgeschehen: Über die allermeisten Arten von Bakterien und Viren, mit denen die Menschen in der Stadt gerade zu kämpfen haben. Man kann Hepatitis, Syphilis, Gastroenteritis-Viren und andere Durchfallviren beobachten und analysieren, wie sie sich verändern. Wir sind zurzeit in einem Folgeprojekt daran, erst einmal die Gesamtheit und Dynamik der RNA-Viren zu beschreiben. Mit einer Abwasser-Surveillance hat man ein Auge mehr, um Unregelmäßigkeiten, Auffälligkeiten, Risiken zu entdecken – oder, wenn sie bereits entdeckt sind, aus einer wortwörtlich anderen Perspektive zu begutachten.
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