Auszeichnung
Forschung für die Medizin von morgen
Wie sich einzelne Blutzellen entwickeln, wollen vier Wissenschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen gemeinsam herausfinden. Denn mit diesem Wissen könnten sich künftig viele Krankheiten besser verstehen und behandeln lassen. Für ihre außerordentliche Grundlagenforschung erhielten sie jetzt den Erwin-Schrödinger-Preis 2017.
Auf dem Monitor sind viele kleine Punkte zu sehen, sie scheinen wahllos über den Bildschirm zu tanzen. Carsten Marr schaut gespannt zu, als würde er in dem Chaos ein System erkennen. Und tatsächlich ist es genau der Job des Forschers vom Helmholtz Zentrum München, das Tanzen der Punkte zu analysieren. Die Punkte sind mikroskopische Aufnahmen von Blutstammzellen. Solche Zellen ändern nur sehr langsam ihre Position, manchmal teilen sie sich. Aus der Position der Zellen können die Forscher auch auf das Entwicklungsstadium der Zellen schließen. Aber auf dem Bildschirm von Carsten Marr wirken die Bewegungen hektisch, weil dort Zeitrafferaufnahmen zu sehen sind, die über viele Tage aufgenommen worden sind.
Diese Aufgabe ist so komplex, dass kein Mensch sie mit bloßem Auge leisten kann. Marr hat deshalb zusammen mit seinem Institutsleiter Fabian Theis vom Helmholtz Zentrum München ein Computerprogramm entwickelt, das jede einzelne Zelle tracken kann. So können die Forscher aus mikroskopischen Zeitrafferaufnahmen das Schicksal einer jeden Zelle nachvollziehen. Heute funktioniert ihr Programm so gut, dass es sogar vorhersagen kann, in was für eine Sorte Blutkörperchen sich eine Stammzelle entwickeln wird. Fabian Theis kann seinen Stolz nicht verbergen, wenn er davon berichtet, wie dieses über mehr als zehn Jahre dauernde Projekt am Ende Erfolge gebracht hat. "Mittlerweile können wir vorhersagen, was eine Zelle an Entscheidungen trifft, wo sie hingeht," erzählt er. "Und diese Methoden sind so allgemein, dass wir damit noch ganz andere Big-Data-Fragestellungen beantworten können."
So haben Carsten Marr und Fabian Theis einen Meilenstein in der Auswertung von großen biologischen Datenmengen geschafft. Dafür wurden sie nun mit dem Erwin-Schrödinger-Preis ausgezeichnet. Der Preis soll in besonderer Weise die interdisziplinäre Forschung honorieren - entsprechend ging er neben dem Physiker Carsten Marr und dem Mathematiker Fabian Theis auch an zwei weitere Beteiligte an dem Projekt: Der Biologe Timm Schroeder und die Physikerin Laleh Haghverdi. Von Timm Schroeder stammt das gesamte experimentelle Setting und auch die grundsätzliche Fragestellung, nämlich: Wie entwickelt sich jede einzelne Blutstammzelle hin zu den verschiedenen Sorten von Blutkörperchen?
Laleh Haghverdi analysierte die genetische Aktivität von Zellen, die sich hin zu Blutkörperchen entwickeln. Ähnlich wie bei dem Projekt mit den mikroskopischen Zeitrafferaufnahmen interessierte die Forscherin nicht, was eine große Anzahl Zellen in ihrer Gesamtheit tut. Vielmehr machte sich Laleh Haghverdi zunutze, dass Molekularbiologen heutzutage einzelne Zellen messen können. Sie können auf Einzelzellniveau bestimmen, welches der 20.000 Gene, die ein Mensch besitzt, gerade aktiv ist. Durch solche Analysen entsteht eine riesige Menge an Ergebnissen, die in gigantischen Datenbanken abrufbar sind - und daraus liest die Physikerin mit ihren Computermodellen, wie jede einzelne Zelle sich fortentwickelt zu einer ausdifferenzierten Zelle. "Meine Arbeit war, als würde ich das Puzzle eines Baumes zusammensetzen, dabei sind die Einzelzellen die Puzzlestücke", erzählt die Forscherin. "Ich konnte sie sortieren, um das gesamte Bild zu bekommen. So konnten wir schauen, welche Zellen sich am Stamm des Baumes befinden und welche Zellen an den Ästen, also später in der Entwicklung."
Was die vier mit dem Erwin-Schrödinger-Preis ausgezeichneten Wissenschaftler gemacht haben, war in erster Linie Grundlagenforschung, dabei schafften sie ihre eindrucksvollsten Erfolge: "Durch diese Einzellzelldaten, das war ganz erstaunlich, konnten wir einiges an Lehrbuchwissen, was seit zehn, zwanzig Jahren anerkanntes Wissen im Feld war, über den Haufen schmeißen," erinnert sich Timm Schroeder. Bei ihrer Arbeit haben die Forscher sehr wirkungsvolle Analyseverfahren entwickelt, mit denen sie in dem Rauschen riesiger Datenmengen nach Mustern suchen können. Sie sind überzeugt, dass sich diese Methoden auch auf andere Fragestellungen anwenden lassen. Der Traum von Laleh Haghverdi ist es etwa, ihre Computermodelle eines Tages auch nutzen zu können, um Big Data-Analysen in ganz anderen Bereichen zu analysieren - und auf diese Weise grundsätzliche Fragen zum Beispiel aus den Sozialwissenschaften beantworten zu können. Schon heute verwenden die Forscher ihre Algorithmen, um angewandte Forschung zu betreiben. So wollen sie etwa zusammen mit Medizinern die Behandlung von Patienten mit Diabetes Typ 1 verbessern, indem sie die Aktivität spezieller, für die Krankheit wesentlicher Zellen messen.
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