Standpunkt
„Europa geht uns alle an“
Die Wahlen zum Europäischen Parlament stehen kurz bevor, in Deutschland wird am 9. Juni 2024 gewählt. Eine gelebte Demokratie ist ein entscheidender Grundpfeiler für die Freiheiten, auch die der Forschung. Ein Standpunkt von Otmar D. Wiestler.
Die großen Fragestellungen unserer Zeit für die Wissenschaft, die Wirtschaft und die Gesellschaft machen nicht an Grenzen halt – und es ist von größter Bedeutung, sie gemeinsam und auf der europäischen Ebene anzugehen. Heute mehr denn je. Im Wettbewerb mit anderen Weltregionen und angesichts solch immenser Herausforderungen wie dem Klimawandel oder der Energiewende kann kein EU-Mitgliedstaat alleine bestehen. Im Europa des 21. Jahrhunderts sollten wir gemeinsam das europäische Projekt voranbringen und nicht in die Falle laufen, nationale Interessen zu priorisieren.
Die Forschung kann zum Projekt Europa große Beiträge leisten. Engagierte Forschungskooperationen über Grenzen hinweg versetzen Europa in die Lage, seine ehrgeizigen Ziele in Bereichen wie Gesundheit, Energie, Verkehr, Umwelt, Klima oder einer digitalen Transformation umzusetzen. Es geht dabei um enorme Chancen.
Um diese wahrnehmen zu können, benötigen wir ein demokratisches, handlungsfähiges und -williges sowie zukunftsorientiertes Europäisches Parlament – Gleiches gilt selbstverständlich auch für die Europäische Kommission und den Rat, in dem die Mitgliedstaaten vertreten sind.
Ein großer Teil unserer Gesetzgebung hat seinen Ursprung auf europäischer Ebene. So verhandelt und bestimmt das Europäische Parlament bei zahlreichen forschungsrelevanten Themen mit – dazu zählten zuletzt etwa der Europäische Gesundheitsdatenraum, neue genomische Verfahren in der Pflanzenzucht oder der Umgang mit künstlicher Intelligenz. Das Europäische Parlament war in den letzten Jahren ein wichtiger Fürsprecher der Forschung – regelmäßig hat es das Budget von „Horizon Europe“, dem Rahmenprogramm der EU für Forschung und Innovation, vor Kürzungen bewahrt.
Horizon Europe fördert die europäische und internationale Forschungszusammenarbeit, die von so entscheidender Bedeutung für Antworten auf unsere komplexen Fragestellungen ist. Unter anderem bringt das Programm Projektpartner mit unterschiedlichen Expertisen und Methoden aus ganz Europa und darüber hinaus zusammen. Nur in diesem Austausch lässt sich gesellschaftliche und technologische Entwicklung fördern.
Sollten rechtsextreme Stimmen im Europäischen Parlament lauter werden, könnte sich das auch auf die Forschungszusammenarbeit negativ auswirken. Und sollte sich die EU weniger offen zeigen, droht auch die Attraktivität des Forschungs- und Innovationsstandorts Europa zurückzugehen und internationale Wissenschaftler:innen abzuschrecken. Das können wir uns nicht leisten.
Wahlen sind gelebte Demokratie. Sie sind auch eine Chance, Grundwerte wie die Wissenschaftsfreiheit zu stützen und zu schützen. Der Europäische Forschungsraum, der eine Art EU-Binnenmarkt für Forschung darstellt, bietet den unerlässlichen Rahmen für die skizzierte exzellente Zusammenarbeit und den freien Austausch der Wissenschaft. Die Ideen zur Ausgestaltung sind so vielfältig wie seine Akteure. Oft wird um Details gerungen.
Für das Gesamtbild steht aus meiner Sicht fest: Forschung und Entwicklung auf internationalem Spitzenniveau sind ein entscheidender Faktor für die Gestaltung einer nachhaltigen Zukunft für Europa. Dafür braucht es nicht zuletzt ein Europäisches Parlament, dessen Abgeordnete den Wert der Forschung (an-)erkennen, das Forschungsportfolio aktiv mitentwickeln und sich bei ihren Entscheidungen auf wissenschaftsbasierte Fakten stützen. Europa geht uns alle an. Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament müssen wir die richtigen Weichen stellen.
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