Porträt
Planerin mit Improvisationstalent
Als Logistikkoordinatorin der größten Arktisexpedition aller Zeiten hat Verena Mohaupt für einen reibungslosen und sicheren Ablauf an Bord der „Polarstern“ gesorgt. Zu sehen, wie ihre Konzepte in der Praxis aufgingen, machte ihr viel Spaß – auch wenn die Corona-Pandemie viele Pläne über den Haufen warf.
„Superlative mag ich eigentlich gar nicht“, sagt Verena Mohaupt. Und doch scheinen große Vorhaben sie anzuziehen. Schon im Alter von 31 Jahren übernahm die Physikerin die Leitung der gemeinsamen Polarforschungsbasis des Alfred-Wegener-Instituts (AWI) und des französischen Paul Emile Victorin Instituts in Ny-Ålesund auf Spitzbergen, einer der nördlichsten Siedlungen der Welt. Und dann MOSAiC: ein Forschungsschiff, hunderte Forschende, die ein ganzes Jahr lang Daten sammeln und mitten im arktischen Winter so nah wie nie zuvor an den Nordpol vordringen. Verena Mohaupt koordinierte die Logistik für das gesamte Unternehmen. Das Fachmagazin Nature hat sie dafür zu einer der zehn Personen gekürt, die im Jahr 2020 die Wissenschaft entscheidend geprägt haben. „Natürlich hat mir die Aufgabe erstmal Respekt eingeflößt“, sagt die 37-Jährige. 70 Tonnen Ausrüstung aus über zwanzig Ländern mussten pünktlich im norwegischen Tromsø ankommen und auf dem Schiff verstaut werden. Nach dem ersten Treffen mit Expeditionsleiter Markus Rex habe ihr ganz schön der Kopf geschwirrt, erzählt sie. „Doch dann habe ich die Aufgabe als das gesehen, was sie war: ein großes Arbeitspaket.“
Die MOSAiC-Expedition
MOSAiC steht für „Multidisciplinary drifting Observatory for the Study of Arctic Climate“. Während der größten Arktisexpedition aller Zeiten erforschten Wissenschaftler aus 20 Nationen die Arktis im Jahresverlauf. Von September 2019 bis Oktober 2020 driftete der deutsche Eisbrecher „Polarstern“ eingefroren im Eis durch das Nordpolarmeer. MOSAiC wurde unter Leitung des Alfred-Wegener-Instituts Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) realisiert.
Neben der Koordination der Expeditionsabläufe war Mohaupt gemeinsam mit ihrer Kollegin Bjela König für die Sicherheit der Teilnehmenden verantwortlich. Drei Wochen lang ergründeten die beiden Frauen Kühlräume, Labors und Lagerplätze auf der „Polarstern“ – allerdings bei sommerlichen Temperaturen zwischen Gran Canaria und Kapstadt, als das Forschungsschiff im Jahr 2018 noch gen Süden in die Antarktis unterwegs war. Um sich und die Wissenschaftler auf die arktischen Bedingungen während der Expedition vorzubereiten und um ihre Ausrüstung zu testen, veranstalteten König und Mohaupt Sicherheitstrainings im norwegischen Tromsø und auf Spitzbergen. Die Teilnehmenden übten beispielsweise, sich selbst oder andere nach einem Unfall aus dem eiskalten Wasser zurück aufs Eis zu ziehen. Und auch in der Dauerdunkelheit der Polarnacht nach Eisbären Ausschau zu halten und im Ernstfall auf diese zu schießen, lernten viele der Wissenschaftler, um das Sicherheitsteam bei der Eisbärenwache zu unterstützen.
Vorausschauende Planung und eine Prise Spontaneität
„Es war toll zu sehen, wie das, was wir am Schreibtisch konzipiert hatten, im Training funktionierte“, erzählt Mohaupt. Die Mischung aus Planung und der Forschungsarbeit im Feld gefällt ihr. „Der Einsatz im Feld macht mir unglaublich viel Spaß“, erzählt sie. „Trotzdem gibt es auch dort langweilige Momente.“ Und mit der Langeweile ist es so eine Sache: „Für einen Eisbärenwächter ist Langeweile die größte Gefahr“, sagt Mohaupt. „Drei Stunden im Dunkeln bei -30°C an einem Fleck zu stehen, ist wahnsinnig anstrengend, die Aufmerksamkeit lässt nach.“
Knapp neun Monate verbrachte die Physikerin an Bord der „Polarstern“. Um auch anstrengende Facetten der Expedition in der Enge des Schiffs, der Kälte der Arktis und monatelanger Dunkelheit der Polarnacht gut zu überstehen, hat die AWI-Forscherin zwei Dinge mitgenommen: Strickzeug und Granatäpfel. „Beim Stricken konnte ich abschalten von den starr strukturierten Abläufen der Arbeitstage, an denen wir fast nie allein waren“, erzählt sie. Etwas mitzunehmen, das man ganz für sich allein genießt, empfiehlt sie jedem, der auf eine Expedition geht. Aus Wollresten hat sie dann Stirnbänder gestrickt, die bei ihren Kollegen direkt zum Einsatz kamen. Und die Granatäpfel? „Die haben sich im Kühlschrank monatelang gehalten, ab und zu habe ich dann zelebriert, frisches Obst zu haben.“
Mohaupt hat in Bielefeld und Paris Physik studiert. Sie koordinierte eine Informationstour des deutschen Greenpeace-Schiffs zum Thema Arktisschutz, bevor sie die Leitung der Forschungsstation auf Spitzbergen übernahm. „Meine Erfahrungen haben mir natürlich geholfen, bei der Koordination von MOSAiC den Überblick zu behalten und vorausschauend zu planen“, sagt die Wissenschaftlerin. Trotzdem fühlte sie sich manchmal ins kalte Wasser geworfen – nicht nur während des Sicherheitstrainings. „Doch dann konnte ich auf die Unterstützung meines Teams und der Logistikabteilung des Alfred-Wegener-Instituts mit all seiner Expertise zählen.“
Entscheidend, um ein Unternehmen in diesen Dimensionen erfolgreich durchzuführen, sei „so viel Vorbereitung und Planung wie irgend möglich“, sagt sie. Die erlaube den Teilnehmenden, in kritischen Situationen flexibel zu reagieren. „Und natürlich eine gute Prise Spontaneität.“ Die bewies sie selber immer wieder. Etwa als sie auf der Fahrt in die Arktis feststellte, dass sie die Träger für das Stromnetz nicht so wie geplant einsetzen konnte. „Wir haben dann improvisiert und das, was wir hatten, so zurecht gesägt und zusammengebunden, dass es wieder passte“, erzählt Mohaupt.
Kurzentschlossen zurück in die Arktis
Im Frühjahr 2020 rüttelte die Corona-Pandemie den gesamten Ablauf der Arktisexpedition durcheinander. „Da hat man einen Plan B, C, D und X“, sagt Mohaupt. „Und dann kommt so ein Virus und durchkreuzt einfach alle Pläne.“ Zeitweise stand die Fortsetzung des Unternehmens auf dem Spiel. Die Hin- und Rückreisewege zahlreicher Forschenden waren abgeschnitten und Visa liefen aus, während sich die Abläufe verzögerten. „Überall gab es Unsicherheiten und Fragezeichen“, erinnert sich Mohaupt. Als Kollegen ausfielen, kehrte sie kurzentschlossen zwei Monate früher als geplant von ihrem Landaufenthalt zurück auf die „Polarstern“. „Nur zehn Tage bevor ich die Quarantäne antreten musste, habe ich entschieden: ok, ich fahre jetzt schon mit“, erzählt sie lachend.
Überhaupt ist die geborene Westfälin für die Expedition viel gependelt zwischen Potsdam, Bremen und der Arktis. Nach ihrer Rückkehr zog sie endgültig in ihre Potsdamer WG, die sie ihre „herzliche Wahlfamilie mit viel Trubel“ nennt. Das Wiederankommen nach Monaten im Eis und auf See fällt ihr nicht ganz leicht. „Eigentlich würde man ja eine große Party feiern“, sagt sie. „Coronabedingt kann ich meine Freunde aber nur einzeln oder online treffen. Da fehlt schon was.“ Den Eisbär-Wachposten hat sie getauscht gegen ihren Schreibtisch am Alfred-Wegener-Institut, statt zwischen Stapeln von Kisten sitzt sie vor Topfblumen und weißen Bücherregalen. „Ich habe mir einen längeren Urlaub ohne rigide Tagesstruktur gegönnt und lasse mir morgens gerne noch etwas Zeit“, erzählt sie. Derzeit koordiniert sie die Arbeiten der Forschungsstation auf Spitzbergen. „Aber ich bin auch gespannt, welches neue Abenteuer auf mich zukommt.“
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