Interview
„Entscheidend ist, wie der Winter wird“
Bei einem milden Winter hält Holger Hanselka, Helmholtz-Vizepräsident für den Forschungsbereich Energie es für wahrscheinlich, dass es keine Engpässe geben wird. Für einen sehr kalten Winter müsse man schon jetzt Szenarien entwickeln. Mittel und langfristig sieht er großes Potenzial in der Geothermie.
Der Winter naht und viele fragen sich, wie gut wir in Deutschland vorbereitet sind. Herr Hanselka, in welchem Umfang ist es bereits gelungen, Erdgas von anderen Exporteuren als Russland zu beschaffen?
Was unsere Abhängigkeit von russischem Gas angeht, um die sich die Energiefrage aktuell vor allem dreht, hat sich tatsächlich schon einiges getan. In Deutschland decken wir etwa ein Viertel unseres Primärenergiebedarfes durch Gas. Das waren in 2021 850 Terawattstunden bei einem Gesamtbedarf an Primärenergie von 3.400 Terawattstunden. Bisher kam die Hälfte davon aus Russland. Im Juli 2021 hatten wir 111 Terawattstunden Erdgas importiert, davon 71 Prozent aus Russland. Im Juli 2022 lag die importierte Menge mit 105 Terawattstunden in etwa gleich hoch. Die Quellen haben sich aber verändert. So kamen nur noch 17 Prozent aus Russland. Es wurde also in erheblichem Maße auf andere Exporteure ausgewichen. Dabei haben vor allem die Einkäufe aus Norwegen und den Niederlanden zugenommen. Belgien ist als neuer Lieferant hinzugekommen. Während Norwegen selbst große Erdgasfelder besitzt, verfügen die Niederlande und Belgien über gut ausgebaute Flüssiggasterminals, über die sie Gas auf internationalen Märkten einkaufen und dann eben auch exportieren.
Auf diese 17 Prozent sind wir aber immer noch angewiesen. Oder können wir durch den Umstieg auf andere Energieträger noch kurzfristig etwas ändern?
Etwa ein Drittel des Gases geht in die Industrie. Hier wird es einerseits genutzt, um Prozesswärme zu erzeugen. Das lässt sich sicher zu einem gewissen Teil auch durch andere Energieträger wie Öl oder Kohle erreichen. Andererseits ist Methan ein Ausgangsstoff für sehr viele chemische Grundstoffe. Dieser Teil kann nicht so schnell ersetzt werden. Nun könnte man sich etwa dazu entscheiden, Teillastbetrieb zu fahren. Das ginge vielleicht in der chemischen Industrie. Die produziert dann weniger Produkte, was wir in den Sekundärmärkten merken würden. Es gibt aber auch Branchen, in denen Teillast keine Option ist. Die Glasherstellung zum Beispiel. Eine Glaswanne kann man nur komplett heizen oder stilllegen. Das heißt, bei Gasknappheit müsste man hier die Produktion einstellen.
Und der Rest?
Ein weiteres Drittel des Gases geht an die Haushalte für die Raumwärme und weitere 12 Prozent an Gewerbebetriebe. Hier wird es zum Heizen und für warmes Wasser benötigt. Wärmepumpen wären eine Alternative. Wärmepumpen benötigen aber niedrige Vorlauftemperaturen und damit gut isolierte Gebäude. Dies lässt sich in Neubauten gut über Fußbodenheizungen oder große Flächenheizkörper realisieren. Im Bereich der Altbauten erfordert der Einsatz von Wärmepumpen jedoch meist größere Sanierungsmaßnahmen. Das heißt: Für den nächsten Winter wird man wohl in vielen Haushalten als auch im Bereich Handel, Dienstleistungen und Gewerbe kurzfristig keinen Ersatz haben.
Da bliebe ja noch der Elektroheizer, der aktuell sehr gefragt ist.
Da mache ich mir wirklich große Sorgen. Ich erinnere an Corona und das Klopapier. Menschen verhalten sich manchmal irrational. Und im Moment scheint es so zu sein, dass die Baumärkte leergefegt sind. Man kriegt keine Ölradiatoren mehr. Man kriegt keine Heizlüfter mehr. Die sind alle ausverkauft. Doch unsere elektrischen Verteilsysteme sind nicht darauf ausgelegt, dass jeder Haushalt diese Teile nun anschließt. Dann bricht das Verteilsystem zusammen und einzelne Straßenzüge werden schwarz. Und wenn wir keinen Strom haben, dann geht auch die Gasheizung nicht mehr. Denn die braucht ja den Strom zur Steuerung. Störungen dieser Art oder im Extremfall ein Zusammenbrechen größerer Teile des Stromnetzes dürfen wir aber keinesfalls riskieren. Das ist etwas, worauf wir ein Auge haben müssen.
Und die Industrie? Welche Konsequenzen hat es, wenn Betriebe nicht mehr mit Gas versorgt werden können?
Da schauen wir einfach mal auf die chemische Industrie. Sie ist Grundlieferant für nahezu alle Produkte, die wir haben. Überall gehen chemische Stoffe mit ein. Wenn das nicht mehr funktioniert, folgt eine Kettenreaktion. Denn dann können viele Produkte nicht mehr hergestellt werden und es würde flächendeckend zu Engpässen kommen. Wir merken ja gerade, wie schlimm es ist, wenn die Computerchips wegen Corona in China im Hafen festliegen. Beim Stopp der chemischen Industrie würden ganze Lieferketten zusammenbrechen und es würde letztendlich einen großen Einfluss auf das haben, was wir heute gewohnt sind, im Baumarkt oder im Supermarkt zu kaufen.
Für wie realistisch halten Sie dieses Szenario?
Es ist jetzt nicht die Zeit, um den Teufel an die Wand zu malen und damit die Bevölkerung massiv zu verunsichern. Unsere Übertragungsnetzbetreiber und die weiteren Akteure des Energiesystems führen ihre Arbeit maximal gut und kompetent aus. Das sind Profis, die wissen, was sie tun. Das hat ja auch das Vorgehen beim Stresstest vorletzter Woche gezeigt. Allerdings sollten wir auch bedenken, dass wir im Moment nicht in normalen Bereich operieren, sondern in einer Art Krisenmodus sind. Ich denke, wir werden mit einem blauen Auge davonkommen.
Ums Energiesparen kommen wir also nicht herum?
Energie zu sparen, tut immer gut. Nicht nur in der jetzigen Phase. Dass man mit Energie sparsam umgeht, sollten wir alle schon als Kinder in der Schule oder im Elternhaus gelernt haben. Dass man zum Beispiel die Fenster nicht beliebig lange offenlässt, sondern besser Stoßlüftung macht. Das sind keine neuen Erkenntnisse. Wenn man die Raumtemperatur um ein Grad Celsius absenken würde, dann könnte man 6 Prozent der Primärenergie sparen. So etwas zu empfehlen und zu appellieren, mit Energie sparsam umzugehen, ist auf jeden Fall sinnvoll. Aber man muss auch das individuelle Bedürfnis der Menschen sehen. Jemand der ein hohes Alter hat, friert vielleicht schneller als jemand, der noch jung und sportlich ist. Da sollte man nicht pauschal sagen, alle müssen jetzt auf 19 Grad runter. Ich glaube auch nicht, dass wir hier Vorschläge brauchen, wie nicht mehr zu duschen und stattdessen kalte Waschlappen zu verwenden. Da fühle ich mich durch das, was im Moment durch die Medien geht, als mündiger Bürger nicht ernst genommen. Wir können sparen, wir sollten sparen und wir müssen auch sparen. Aber entscheidend ist am Ende nicht die Größe des Sparens. Entscheidend ist, wie der Winter wird.
Bei einem milden Winter gäbe es keine großen Probleme?
Dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, relativ stabil hindurchzukommen. Wird es ein sehr kalter Winter, dann kommt es auf jeden Fall zu Engpässen. Und das bedeutet, wir müssen abgestimmte Pläne in der Schublade haben, was abgeschaltet werden kann und was nicht.
Und wenn der Winter überstanden ist? Wo sehen Sie die größten Potenziale, das Energiesystem krisenfest zu machen?
Aus meiner Sicht haben sich die Mittel- und Langfriststrategien durch den Überfall auf die Ukraine nicht grundsätzlich geändert. Denn wir brauchen eine Energiewende. Wir müssen den Klimawandel in den Griff bekommen. Jetzt reden wir über den nächsten Winter und da kann es sein, dass wir plötzlich wieder mehr Kohle, mehr Öl verbrauchen als ursprünglich geplant. Wir werden mehr Flüssiggas importieren. Und das muss gekühlt, komprimiert und transportiert werden. Dass ist ja energetisch alles sehr aufwändig und teuer und sicher auch nicht klimanützlich. Aber meines Erachtens müssen wir hier kurzfristig Kompromisse eingehen. Unmittelbar danach ist die Klimafrage aber wieder ganz, ganz oben auf der Agenda.
Was können wir also tun?
Was man schon tut, und da muss man der Regierung dankbar sein, ist vernünftige Einkaufsstrategien zu entwickeln und umzusetzen. Also nicht alles nur von einem Anbieter beziehen – wie das Gas aus Russland. Denn der Energierohstoff Gas ist ja nicht knapp. Es muss nur seinen Weg nach Deutschland finden. Dann muss man weiter fragen: Wie gehen wir mit unseren Kernkraftwerken um? In unserer jetzigen Situation ist es sicher berechtigt, die Kernkraftwerke nicht zum Ende des Jahres abzuschalten, sondern über einen begrenzten Weiterbetrieb nachzudenken. Technisch ist das möglich, aber letzten Endes eine politische Entscheidung. Dazu muss man wissen, dass es ja nicht nur um die Menge des produzierten Stroms geht, sondern auch um den Beitrag zur Netzstabilität. Das wiederum funktioniert, aber nicht im Streckbetrieb. Hier würde ich mir schnelle Entscheidungen anstatt wahlkampfpolitisches Taktieren wünschen.
Welche Wege kann die Forschung denn aufzeigen, um unser Energiesystem fit für die Zukunft machen, um damit einerseits dem Klimawandel entgegenzutreten und andererseits die Abhängigkeiten von einzelnen Staaten zu verringern?
Ein wichtiger Forschungsbeitrag den wir bei Helmholtz-Gemeinschaft leisten, ist systemische Betrachtungen anzustellen. Wir haben sowohl das Strom- wie auch das Gasnetz in Simulationsmodellen hinterlegt. Wir können Szenarien rechnen und Vorhersagen treffen. Wir können also das Energiesystem sehr weitgehend beschreiben. So können wir beispielsweise bewerten, was passiert, wenn plötzlich die Hälfte des Gases nicht mehr verfügbar ist. Und wir können berechnen, wie man da am besten gegensteuert. Eine solche systemische Betrachtung hat meines Erachtens in der Vergangenheit eine untergeordnete Rolle gespielt. Heute sind wir da sehr gefragt und liefern wichtige Entscheidungsgrundlagen, sowohl für Industrieunternehmen als auch für die gesamte Bundesrepublik
Wo besteht aus Sicht der Forschung noch Potenzial?
Die Energieforschung der Helmholtz-Gemeinschaft engagiert sich vor allem in Technologien mit hohem Potenzial. Zum Beispiel sehen wir Wasserstofftechnologien als unverzichtbar für den Erfolg der Energiewende, für eine zuverlässige Stromversorgung in Zeiten, in denen Sonne und Wind nicht genug Energie liefern. Aber auch in der Industrie kann Wasserstoff fossile Energieträger ersetzen, Stichwort Stahlherstellung. Und auch im Verkehr und Wärmesektor gilt er als vielversprechender Treibstoff. Wir müssen jedoch die Herstellungsprozesse effizienter, nachhaltiger und kostengünstiger machen, und gleichzeitig dafür sorgen, dass Wasserstoff in allen Anwendungen ein sicherer und zuverlässiger Energieträger ist. Dafür leisten wir wichtige Beiträge mit unseren Forschungsinfrastrukturen und unserer wissenschaftlichen Expertise. Ein weiteres Beispiel ist die Geothermie. Wir wissen, dass bei uns riesige Mengen an Wärme im Untergrund schlummern, die sich ernten lassen. Der gesamte Oberrheingraben ist zum Beispiel ein hervorragender Hotspot. Gemeinsam mit Fraunhofer haben wir im Februar dieses Jahres eine Studie herausgegeben. Dort zeigen wir, dass man allein nach derzeitigem Entwicklungsstand 25 Prozent der Wärmeversorgung in Deutschland aus Geothermie decken könnte. Eine erneuerbare und emissionsfreie Energiequelle, die man unbedingt nutzen sollte. Es wird nicht schnell genug gehen, um in diesem Winter schon zu helfen. Dennoch müssen wir jetzt auch die Geothermievorhaben weiterentwickeln, um sie möglichst schnell in die Anwendung zu bekommen. Denn Deutschland zu einem Viertel mit Wärme aus Geothermie versorgen zu können, wäre ein Riesenschritt nach vorn.
Was muss da aus wissenschaftlicher Sicht getan werden?
Geothermie ist ja keine neue Erfindung. Es gibt einige Städte, die schon heute daraufsetzen. Reykjavik zum Beispiel ist komplett mit Geothermie versorgt. Das funktioniert prima. Natürlich ist es dort auch einfacher, weil die Wärme direkt bis an die Erdoberfläche kommt. In Deutschland liegen geothermischen Quellen tiefer. Während die Stadtwerke München mit dem Ziel einer 80-prozentigen Deckung ihres Wärmebedarfes in 2040 hier Vorreiter sind, gibt es für die tieferliegende und regional unabhängige größte Ressource, das Grundgebirge, noch technologische Herausforderungen in der umweltgerechten Nutzung. Das führt auch dazu, dass wir – wie bei vielen anderen Fragenstellungen auch – jede Menge Bedenken in der Gesellschaft sehen. Wenn wir also Löcher bohren, dann fragen wir uns: Was macht das mit der Seismizität? Führt das zu Verwerfungen im Untergrund? Alle diese Fragen sind berechtigt, die Forschung muss hier Antworten geben. Und genau zu diesen Fragestellungen wie auch zum Dialog mit der Gesellschaft leisten wir bei Helmholtz wichtige Beiträge.
Welche zum Beispiel?
In der letzten Helmholtz-Senatssitzung im Juni wurde dazu die Einrichtung einer einzigartigen Forschungsinfrastruktur direkt im Untergrund beschlossen. Das geothermische Untertagelabor GeoLaB ist ein 50 Millionen-Projekt, das wir im Schwarzwald oder im Odenwald realisieren werden, um die notwendige geowissenschaftliche Forschung in großem Maßstab zu lancieren. Aufbauend auf einer Lernkurve, die sich teilweise in der Industrie bereits durchgesetzt hat, unterstützen wir diese durch unsere Forschungsprojekte in GeoLaB weiter. Fehler der Vergangenheit, die zu den bereits genannten Vorkommnissen im Untergrund geführt haben, dürfen sich nicht wiederholen. Wenn wir dann Antworten auf diese wichtigen Fragen gefunden haben, brauchen Industrie und Gesellschaft den Willen und die Politik den Mut zur breiten Umsetzung.
Welche Entwicklungen gibt es noch bei den Erneuerbaren?
Wir brauchen Photovoltaik. Ganz ohne Frage. Aber unsere Flächen sind begrenzt. Natürlich kann man Häuserdächer nutzen. Man kann Parkdecks nutzen und auch landwirtschaftliche Flächen. Unser Problem dabei ist aber, dass die Effizienz heutiger Solarzellen noch nicht zufriedenstellend ist. Das Ziel der Forschung muss also sein, aus gleicher Fläche deutlich mehr Energie herauszubekommen. Und genau das machen wir gemeinsam in Berlin, in Jülich und in Karlsruhe mit den Tandemsolarzellen. Das halte ich persönlich für ein ganz spannendes und zukunftsträchtiges Feld, was sicherlich maßgeblich zur Energiewende beitragen wird.
Aktuell taucht immer wieder die Frage auf, ob wir in Deutschland tatsächlich auch eigenes Gas durch Einsatz von Fracking fördern sollten. Was meinen Sie dazu?
Aus meiner persönlichen Sicht ist es sinnvoll, zumindest darüber zu diskutieren. Denn ich muss sagen, es schon grotesk. Auf der einen Seite kaufen wir Fracking-Gas aus anderen Ländern. Bei uns selber aber verbieten wir es. Das passt nicht zusammen. Hier gibt es Parallelen zur Geothermie. Man muss eben Erfahrungen und Kenntnisse haben, wie der Untergrund funktioniert und was dort passiert. Das wurde bereits sehr intensiv erforscht, dann aber gesellschaftlich und politisch abgelehnt. Meines Erachtens muss die Frage nochmal gestellt werden. Und man kann am Ende zur gleichen Erkenntnis kommen. Man kann es wieder ablehnen. Oder man kann sich dem öffnen. Denn es ist auch zu erwähnen, dass wir vor allem im Norddeutschen Raum durchaus große Gasvorkommen haben, die man erschließen und nutzen könnte. Wenn man nur wollte.
Wenn wir diesen Winter überstanden haben, sind die Weichen dann richtig gestellt, sodass es im Jahr darauf auch ohne russisches Gas gehen könnte?
Ja und nein. Die Weichen sind dann so gestellt, dass wir das russische Gas vor allem durch Flüssiggas ersetzen werden. Dass der Prozess, es irgendwo auf der Welt herunterzukühlen, zu verdichten, zu uns zu bringen und wieder zu expandieren energetisch nicht besonders attraktiv ist, steht auf einem anderen Blatt. Also, ja, wir werden den Bedarf für den übernächsten Winter decken können. Aber, nein, das ist nicht die Lösung unseres Energie- und vor allem nicht unseres Klimaproblems.
Kurzfristig müssen wir jetzt erst einmal das abfedern, was der russische Krieg gegen die Ukraine ausgelöst hat. Mittel- und langfristig – und darauf lege ich großen Wert – müssen wir an unseren klimapolitischen Zielen festhalten. Wir müssen aus den fossilen Energieträgern herauskommen. Das muss ganz oben auf der Agenda bleiben. Und – das möchte ich betonen – auch dafür bedarf es Energieimportstrategien. Wir werden nie energieautark werden, solange wir Industriestandort sind – was hoffentlich das gemeinsame, von der Gesellschaft getragene Zukunftsbild für Deutschland ist.
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