Portrait
Entdeckerin der Tiefsee
Die Meeresbiologin Antje Boetius ist das Gesicht der Polarforschung in Deutschland. Ihre Populariät nutzt sie nicht nur für die Forschung, sondern auch für den Dialog mit der Gesellschaft, der ihr besonders am Herzen liegt.
Es muss ein Gefühl sein wie vor Hunderten von Jahren, als die Naturforscher zu fremden Kontinenten aufbrachen, um neue Arten zu entdecken und die Erde zu vermessen. Antje Boetius knüpft nahtlos an diese große Ära an: Zu ihren Tiefsee-Expeditionen ist sie auf den größten Forschungsschiffen weltweit unterwegs, an Bord sind U-Boote, unbemannte Tauchroboter und hochkomplexe Messsysteme. „Wir erstellen Karten von Regionen, die noch nie zuvor jemand gesehen hat“, sagt die Meeresbiologin, die das Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven leitet.
Unbekannte Lebensräume im Meer haben es ihr angetan, und davon gibt es viele: zum Beispiel unter dem Eis der Polarmeere oder im sturmgepeitschten Südozean. Bei einer ihrer Expeditionen fanden Antje Boetius und ihr Team gewaltige Schwamm-Landschaften am Karasik-Seeberg in der zentralen Arktis. „Auch unter dem Eis ist die Tiefsee keine Wüste“, sagt Antje Boetius: „Es gibt dort noch so viel zu entdecken und gleichzeitig ändert sich schon alles!“
Mit dieser Botschaft wendet sich die Forscherin immer wieder an die Öffentlichkeit, sie macht sich auf zu Vorträgen, gibt Interviews, schreibt Artikel. In ihnen sensibilisiert sie dafür, wie empfindlich das Ökosystem ist, das weit unter dem Meeresspiegel liegt. Wenn sie aus dem Fenster eines U-Bootes schaut oder die Aufnahmen von Tiefsee-Kameras auswertet, sieht sie schon heute Spuren des Klimawandels, aber auch direkter Eingriffe des Menschen. Für ihr kommunikative Engagement ist Antje Boetius 2018 mit dem "Communicator-Preis – Wissenschaftspreis des Stifterverbandes“ ausgezeichnet worden. Die Jury betonte besonders die sehr persönliche und authentische Art ihrer Kommunikation. Auch das Vorläufige und Prozesshafte wissenschaftlichen Arbeitens und die damit verbundenen Unsicherheiten mache sie in ihrer Kommunikation immer wieder deutlich.
Wir erstellen Karten von Regionen, die noch nie jemand gesehen hat
Derzeit gerät die Tiefsee zunehmend in den Blick von Investoren, die Unterwasser- Bergbau betreiben wollen. „Seeberge sind häufig vulkanischen Ursprungs und reich an Nickel, Kupfer und seltenen, wertvollen Metallen. Viele liegen in internationalen Gewässern, da braucht es dringend internationale Abkommen und Bestandsaufnahmen für den Naturschutz“, sagt Antje Boetius. „Während wir Forscher in der Tiefsee noch immer Entdecker sind, dienen unsere Beobachtungen dem Schutz der Meere und ihrer Bewohner.“
In den vergangenen Jahren war Boetius vor allem in den Polarregionen unterwegs. Dort testete sie mit ihrem internationalen Team zuletzt nagelneue High-Tech-Forschungsgeräte: Tauchroboter etwa, die unter Eisschollen entlangfahren und zum Meeresboden abtauchen. Sie bringen Erkenntnisse über die entlegensten Regionen der Welt mit, wo Menschen nicht tauchen können. Für die Forscherin ist die Vielfalt an Arten und Lebensräumen im Meer an sich ein Schatz. In ferner Zukunft könnte darin sogar der Schlüssel zu medizinischen Fortschritten liegen: „In der Tiefsee erreichen einige Lebewesen, deren Verwandte im Flachwasser ein paar Jahre alt werden, eine Lebensdauer von Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten. Wie funktioniert das?“
Vor allem will Antje Boetius erforschen, welche Rolle der Ozean für die Entstehung und die Zukunft des Lebens auf der Erde spielt. Vor einigen Jahren machte sie einen spektakulären Fund: Kleine Mikroorganismen entdeckte sie, die Methangas im Meeresboden veratmen. Wenn es diese Organismen nicht gäbe, vermutet Boetius, wäre die Erde wohl zu warm für menschliches Leben.
Das Alfred-Wegener-Institut kennt sie gut und lange. In den 90ger-jahren machte sie hier ihre Doktorarbeit. Erfahrungen im Wissenschaftsmanagement sammelte sie im Senat der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) sowie im Wissensschaftsrat. Der Austausch zwischen Wissenschaft und Gesellschaft liegt ihr seit jeher besonders am Herzen. So engagiert sei sich beispielsweise auch mit dem Vorsitz des Lenkungsausschusses von Wissenschaft im Dialog.
Während sie in ihrer Arbeit zwischen Forschungsschiff, Laboren, Büros und Konferenzräumen pendelt, träumt sie manchmal von einer Expedition, wie es sie bislang nur bei Jules Verne gibt: „Ich fände es phantastisch, mehrere Wochen unter Wasser zu leben und direkt mitzubekommen, wie das Leben dort funktioniert – einfach wie Kapitän Nemo im U-Boot zu sitzen und mir die Weltmeere von unten anzuschauen.“ So wie eine Entdeckerin der Tiefsee; zu Orten reisen, die noch kein menschliches Auge gesehen hat, und davon erzählen, was unser blauer Planet noch für Geheimnisse birgt.
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