Interview
Digital Health Global Good aus Deutschland
Frau Hernandez, Herr Böhme, aus dem Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung wurde gerade eine Stiftung ausgegründet, die Sie führen werden. Damit wollen Sie nachhaltig das öffentliche Gesundheitswesen fördern. Was ist die Idee hinter SORMAS?
Jan Böhme: SORMAS wurde 2016 am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung entwickelt. Im Kern ist SORMAS eine Software zum Prozessmanagement von Epidemien und von Pandemien. Das heißt, wir bilden in unserer Software den gesamten Prozess von der Aufdeckung einer möglichen Erkrankung, über die Durchführung aller notwendigen Tätigkeiten bis letztendlich zur Bewältigung der Epidemie oder Pandemie ab.
Pilar Hernandez: Bisher haben wir Module für über 40 Krankheiten in unsere Open Source Software integriert. SORMAS wird jetzt in ungefähr 10 Ländern benutzt. Das sind Staaten auf dem afrikanischen Kontinent aber auch in Europa und Asien.
Herr Böhme, wie genau funktioniert Ihr System?
Jan Böhme: Es fängt normalerweise damit an, dass bei einer koordinierenden Stelle – etwa einem Gesundheitsamt – ein Hinweis eingeht. Ein positives Testergebnis zum Beispiel. In SORMAS wird dann ein sogenannter Fall angelegt, also ein bestätigter oder ein unbestätigter Verdacht auf eine entsprechende Erkrankung. Dort können verschiedene Informationen erfasst werden: um welche Krankheit es sich handelt; wo der Fall aufgetreten ist; wo sich die Person aktuell befindet und Ähnliches. Nun können wir diesem Fall über das System verschiedene Aufgaben zuweisen, die direkt an entsprechende Teams gehen. Dann prüft zum Beispiel jemand vor Ort, ob es sich wirklich um die Krankheit handelt und ob es Kontakt zu anderen Personen gab. Kontaktpersonen werden dann ebenfalls in SORMAS erfasst. So lassen sich Infektionsketten nachvollziehen. Und auch alle weiterführenden Maßnahmen, wie zum Beispiel solche zur Isolation werden in SORMAS abgebildet, koordiniert und anschließend auch statistisch auswertet.
Frau Hernandez, Sie sind Expertin im Bereich Public Health. Welche Vorteile bietet Ihr System gegenüber bisheriger Herangehensweisen?
Pilar Hernandez: Es ist wichtig, zu verstehen, dass SORMAS viel mehr als nur eine Webseite oder eine App ist. Es ist eine Plattform, die alle an der Ausbruchfrüherkennung und an der Bekämpfung von Pandemien beteiligten Personen verbindet. Nicht nur das Personal der Gesundheitsämter, auch die Mitarbeiter in den Flughäfen arbeiten, in Krankenhäusern, in Laboratorien – sie alle dürfen ihre Informationen eingeben. In SORMAS werden die Daten gesammelt und ausgetauscht. Und das ist einzigartig. Man kann die Information nicht nur vertikal verteilen – also zum Beispiel von der Kommune zum Gesundheitsministerium – sondern in verschiedene Richtungen. Auf der Plattform stehen die Informationen immer in Echtzeit zur Verfügung. Dadurch kann man sehr schnell reagieren. Man kann natürlich auch andere Tools benutzen, die nur lediglich Informationen sammeln. Das nennt man Data Warehouse. Die speichern zum Beispiel die Anzahl der Leute, die erkrankt oder geimpft sind. Aber diese Tools erlauben in der Regel kein Management und keine Analyse der Informationen. Es wird einfach nur gesammelt aber nicht analysiert und dadurch kann man keine Entscheidungen treffen.“
Was verbindet Sie beide mit den Themen übertragbare Krankheiten und Epidemien auf der einen Seite und digitale Systeme auf der anderen?
Jan Böhme: Ich bin seit Beginn meiner beruflichen Laufbahn Informatiker und war schon immer in der Softwareentwicklung unterwegs. Die konkrete Brücke zu SORMAS wurde bei mir geschlagen, als ich in einem Gesundheitsamt als Anwendungsbetreuer gearbeitet habe. Das war zu Beginn der Covid-19-Pandemie und in ich habe da die Einführung von SORMAS begleitet. Da habe ich zum ersten Mal hautnah erlebt, wie viel Mehrwert das System bringt. Ich hatte gleich das Gefühl, dass in SORMAS extrem viel Potenzial liegt. Und weil ich gerne Teil davon sein würde, dieses Potenzial in Zukunft noch zu vergrößern, bin ich dann zum Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung gewechselt.“
Pilar Hernandez: Ich bin aus einer anderen Richtung zu SORMAS gekommen. Ich bin auf Infektionskrankheiten spezialisiert und habe in diesem Bereich auch promoviert - aber vor allem in internationalen Kontexten. Bevor ich zur SORMAS Foundation gekommen bin, war ich in verschiedenen Ländern unterwegs. Vor allem in Afrika. Ich war zwei Jahre in Nigeria. Da war ich Teamleiterin eines Projektes, das sich um Pandemieprävention gekümmert hat. Und das wurde von der GIZ [Anm. d. Red. Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit] finanziert. Eine der Komponenten in diesem war SORMAS. So bin ich damit in Kontakt gekommen. Und da Infektionskrankheiten ja mein Thema sind, hat mich das natürlich interessiert. Als das Projekt in Nigeria dann zu Ende war, habe ich mich entschieden, im SORMAS-Team zu arbeiten.“
Aus dem HZI-Projekt ist nun die Foundation entstanden. Warum haben Sie sich für eine Stiftung entschieden, um SORMAS voranzubringen?
Jan Böhme: Wir haben uns mit allen Beteiligten Gedanken gemacht, welche Struktur in Zukunft die Richtige für SORMAS ist. Dass es eine Stiftung wird, war eine aktive Entscheidung. Denn für den langfristigen Erfolg von SORMAS als Digital Health Global Good ist es sehr relevant, zu vermeiden, dass wir in irgendeiner Form monetären Interessen unterliegen. Deshalb haben wir uns für ein Non-Profit entschieden. In unserem Fall eben eine Stiftung.“
Pilar Hernandez: Dazu muss man wissen, dass es verschiedene Digital Health Global Goods gibt. Eine Kategorie davon ist die Software. Und da handelt es sich in den meisten Fällen um Open Source Software. Das bedeutet, die Software gehört keiner Firma. Und jeder kann zu ihrer Weiterentwicklung beitragen. SORMAS macht hier keine Ausnahme. Und viele der Open Source Projekte wie der Internetbrowser Firefox werden von einer Foundation unterstützt. Wie die Mozilla Foundation bei Firefox oder die Wikimedia Foundation bei Wikipedia. Davon haben wir uns inspirieren lassen.
Frau Hernandez, Sie haben zwei Jahre in Nigeria gearbeitet. Wie geht man dort mit Infektionskrankheiten und Epidemien um - vielleicht im Vergleich zu Deutschland?
Pilar Hernandez: Nigeria ist ein extrem gutes Beispiel. Denn dort ist SORMAS das nationale System, das für die epidemiologische Überwachung und für die Bekämpfung von Epidemien und Pandemien benutzt wird. Das hat man auch während der Covid-Pandemie gesehen. Da waren sie mit dem System dort sehr viel besser ausgestattet als zum Beispiel Deutschland. Natürlich sind Länder wie Nigeria viel mehr auf Ausbrüche sensibilisiert. Denn da treten immer wieder Krankheiten auf. Und zwar nicht nur solche, die wir hier kennen, sondern eben auch Ebola. Man ist sich dort bewusst, dass es auch zu katastrophalen Ausbrüchen kommen kann. Deshalb sind die Leute da viel proaktiver. Um besser vorbereitet zu sein hat sich das Nigeria Center for Disease Control schon 2016 mit dem Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Verbindung gesetzt. Gemeinsam wurde dann SORMAS entwickelt. Durch Covid ist nun auch in Deutschland das Thema Epidemie und Pandemie ins Bewusstsein der Bevölkerung gerückt.
Und mittlerweile ist SORMAS auch bei uns zumindest in Fachkreisen ein Begriff?
Jan Böhme: Das stimmt. Deutschland hat SORMAS 2020 eingeführt, um die Covid-Pandemie besser bewältigen zu können. Der Einsatz wurde bisher zentral vom Bundesministerium für Gesundheit über das HZI finanziert. Das hat sich jetzt ab ersten Januar geändert, da das Projekt planmäßig ausgelaufen ist. Zum Glück hat sich der Freistaat Bayern dazu entschieden, den zentralen Einsatz von SORMAS für das gesamte Bundesland weiterhin auszuschreiben. Nun arbeiten wir mit dem Dienstleister vom freien Markt zusammen, um SORMAS in Bayern weiterhin bereitzustellen und zu verbessern.
Nun unterscheiden sich Luxemburg, Nigeria und Bayern ja wahrscheinlich sehr in den Bedürfnissen des jeweiligen Gesundheitssystems. Wie reagiert SORMAS darauf?
Pilar Hernandez: SORMAS wird an das Land und an dessen Epidemiologie angepasst. Das Gesundheitsministerium eines jeden Landes hat eine Liste mit meldepflichtigen Krankheiten. Und daran passen wir SORMAS an. Außerdem wollen nicht alle Länder SORMAS gleich für all ihre meldepflichtigen Krankheiten einsetzen. Denn sie haben bereits eigene Systeme. Während Covid haben manche Länder gesehen, dass ihre eigenen Systeme für einen effizienten Umgang mit der Pandemie nicht ausreichen. Deshalb haben sie SORMAS für Covid eingesetzt. Das war zum Beispiel in der Elfenbeinküste der Fall. Die haben im Rahmen eines europäischen Projekts SORMAS für Covid eingeführt und haben nun Interesse, es für weitere Krankheiten zu benutzen.
Was sind die wichtigsten Aufgaben, die auf die Foundation zukommen?
Jan Böhme: Vom technischen Standpunkt ist natürlich die Weiterentwicklung der Plattform durch die Community eine wichtige Aufgabe. Durch Moderation stellen wir zum Beispiel sicher, dass nicht zwei Beteiligte das gleiche entwickeln. Wir koordinieren die Zusammenarbeit. Das beschleunigt die Entwicklung. Und wir haben einen Überblick darüber, was gerade passiert. So können wir die Entwickler frühzeitig darauf hinweisen, dass ihre Ideen vielleicht nicht kompatibel zu dem sind, was ein anderer entwickelt. Dann stellen wir die Kommunikation innerhalb der Community her. Auch das ist eines unserer großen Aufgabengebiete.“
Pilar Hernandez: Und wir müssen dazu beitragen, dass immer mehr Länder SORMAS einsetzen und auch eigenständig betreiben. Dabei ist wichtig, zu verstehen, dass wir vor allem bei der Etablierung von SORMAS helfen. Unsere Hauptaufgabe ist es, das System an die Bedürfnisse des Landes anzupassen. Also Konfiguration, Unterstützung, Schulung in den ersten Monaten. Aber dann sollten die Länder selber übernehmen, um unabhängig von uns und wenn möglich auch unabhängig von externen Finanzierungsquellen zu sein.“
Lassen Sie uns einen Blick in die Zukunft wagen. Was ist Ihre große Vision für SORMAS?
Jan Böhme: Unsere große Vision ist, dass wir SORMAS irgendwann weltweit etabliert haben. Dass es das führende und nachhaltigste Epidemiemanagementsystem der Welt ist. Und das können wir nur erreichen, wenn wir alle in der Open Source Community zusammenarbeiten.
Pilar Hernandez: Unsere Vision hat für mich zwei wichtige Punkte. Wir möchten, dass die SORMAS-Software eine hohe Qualität hat und gleichzeitig nachhaltig ist. Deshalb ist die Rolle der SORMAS Foundation so wichtig. Denn wenn bei einem Open-Source-Projekt keiner ist, der die Beiträge der Community moderiert und sich damit um die Qualität kümmert, kann sich daraus keine führende Software entwickeln. Und dafür sind wir da.
Leser:innenkommentare