Portrait
Die Frau mit der Gen-Schere
Vor vier Jahren entdeckte die Französin Emmanuelle Charpentier einen Abwehrmechanismus, mit dem Bakterien sich gegen Viren verteidigen. Die Entdeckung revolutionierte die Molekularbiologie.
Paris, 1981. Die zwölfjährige Emmanuelle kommt aus der Schule heim, heute stand ihr Lieblingsfach auf dem Stundenplan: Biologie. Zu ihrer Mutter sagt das Mädchen: „Eines Tages werde ich am Pasteur Institut arbeiten!“ Eine selbstbewusste Prognose – doch Jahre später schließt Emmanuelle Charpentier tatsächlich am renommierten Pariser Forschungszentrum ihre Doktorarbeit ab. Was sie als Zwölfjährige aber nicht voraussehen konnte: dass sie 30 Jahre später, als gestandene Biologin, eine kleine Revolution in Gang setzen würde. Charpentier beschäftigt sich zu dieser Zeit mit der Viren-Abwehr von Bakterien: Sie entledigen sich ihrer Feinde, indem sie deren DNA einfach zerschneiden. Ob ein solcher Schneidemechanismus wohl nachgeahmt werden kann? Die Forscherin weiß, wie viele ihrer Kollegen damit beschäftigt sind, Genabschnitte zu zerteilen, gewünschte Abschnitte zu entfernen, einzufügen oder zu korrigieren. Bisher benötigen sie dafür viele Monate, eine regelrechte Bastelarbeit.
Charpentiers Ehrgeiz: Sie will den bakteriellen Schneidemechanismus erst verstehen, dann nach- und in eine Art Universalwerkzeug umbauen. Gentechnische Eingriffe würden so viel schneller als bisher möglich. Es gäbe neue Therapiemöglichkeiten, etwa bei der Behandlung von menschlichen Erbkrankheiten. Das Problem: „Wir hatten zwar entdeckt, wie die Immunabwehr bei Bakterien funktioniert und wie wir sie für eine neue Technologie nutzen können“, erzählt sie rückblickend, „aber mir fehlte der letzte Baustein, damit das System für ganz unterschiedliche Zellen und Anwendungen funktioniert.“
Diesen letzten Baustein entschlüsselt sie im hohen Norden Schwedens. Nach Stationen in den USA und Österreich wechselt sie 2009 an die Universität in Umeå – und damit in genau das richtige Umfeld für ihre Grundlagenforschung: Die finanziellen Bedingungen sind hervorragend, der universitäre Fokus ist stark auf Mikrobiologie gerichtet. Charpentier hat die Freiheit, auch risikoreiche und arbeitsintensive Projekte zu verfolgen – etwa ihre Gen-Schere. Und tatsächlich: 2012 veröffentlicht die Wissenschaftlerin eine komplette Anleitung für den Schneidemechanismus im Fachmagazin Science. Seitdem nutzen Wissenschaftler rund um den Globus das neue System. Die Technologie der ehemaligen Biologie-Einser-Schülerin erobert die Welt.
Anfang 2013 ging Charpentier nach Deutschland. Am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig leitete die 45-Jährige die Abteilung Regulation in der Infektionsbiologie. Dass sie häufig umziehen, sich immer wieder mit einer neuen Sprache, einer anderen Kultur arrangieren muss, gehört für die Französin zum Job dazu. „Das hat mich kreativer gemacht, mir immer wieder neue Impulse gegeben“, sagt sie. Ihren Doktoranden und Postdocs rät sie deshalb dringend zu einem Auslandsaufenthalt. Sie predigt geradezu, dass Chancen ergriffen werden müssen. „Einige Leute sehen das Glück auch dann nicht, wenn es sie in die Nase zwickt. Du musst es provozieren und dann zupacken.“ Nie das Land zu verlassen, die Wissenschaft als Nine-to-five-Job zu betrachten, das funktioniere nicht. „So kann man keine Karriere machen. Man muss realisieren, dass man in einem harten Wettbewerb steht.“
An der Medizinischen Hochschule Hannover hat Charpentier mittlerweile auch eine der 40 hoch dotierten Humboldt-Professuren inne – als dritte Frau neben 37 Männern. Muss man da nicht automatisch für eine Quotenregelung sein? Nein, findet Charpentier: „Diese Art von positiver Diskriminierung würde Frauen eher schaden. Ich fürchte, dass ihre Forschung als zweitklassig angesehen würde.“ Dennoch beobachtet sie, dass Frauen besser sein müssen als männliche Kollegen auf gleichen Positionen. Mit ihren dunkelbraunen kurzen Locken und ihrem offenen Lächeln wirkt die zierliche Frau weitaus jünger als Mitte 40. Früher hat sie viel getanzt, Ballett. Ihren täglichen Arbeitsweg in Braunschweig legte sie stets mit dem Fahrrad zurück, zwölf Kilometer sind es insgesamt. „Ich muss meine Energie loswerden“, sagt sie. „Davon habe ich nämlich eine ganze Menge.“ Ab und zu kommt es vor, dass sie sich auf einem Rockkonzert austobt. „Da kann es mir passieren, dass ich mich in einem Pulk von tausend Kids wiederfinde. Damit habe ich überhaupt kein Problem“, sagt sie lachend.
Viel Zeit fürs Tanzengehen bleibt Charpentier allerdings nicht: Neben ihrer Forschung hat sie jüngst eine Firma mitbegründet. CRISPR Therapeutics will auf Basis der neuen Technologie Therapien für lebensbedrohliche genetische Erkrankungen entwickeln. „Ich möchte mein Baby noch eine Weile begleiten“, sagt Emmanuelle Charpentier. „Es geht momentan alles so schnell, dass ich kaum Zeit habe, das richtig zu realisieren.“
Pressemeldung: Breakthrough Prize in Life Sciences für Emmanuelle Charpentier
Update vom 07.10.2020: Für ihre Erforschung von Methoden zur Erbgutveränderung wurde Emmanuelle Charpentier gemeinsam mit Jennifer A. Doudna mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet. Die beiden Wissenschaftlerinnen haben die Genschere Crispr/Cas9 maßgeblich entwickelt.
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