Porträt
Die Zukunftstechnologin
Mediziner mit künstlicher Intelligenz bei ihrer Arbeit zu unterstützen, und zwar in Echtzeit während invasiver Eingriffe – das ist die Idee von Lena Maier-Hein, Datenwissenschaftlerin am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ).
Einen Unterschied machen. Dieser Satz bleibt hängen, wenn man mit Lena Maier-Hein gesprochen hat und sie nach ihrer Motivation fragt. Einen Unterschied machen für Patienten, die in Behandlung sind, und für Ärzte, die auf der Suche nach Antworten sind. Diese Antworten sollen Daten während medizinischer Eingriffe liefern – während Operationen, während Darmspiegelungen oder während minimal invasiver Eingriffe. Die Methoden, wie diese Informationen gewonnen, verarbeitet und angewendet werden, sind gerade erst in der Entstehung.
Ihr Lehrer prognostizierte der 1980 geborenen Lena Maier-Hein einst, sie würde einmal Mathematikprofessorin werden. „Ich fand das absurd“, sagt sie bescheiden. „Damals hätte er mir auch sagen können, ich werde Astronautin, das wäre genauso abwegig gewesen.“ Aber damit lag er gar nicht so verkehrt, denn was sie heute macht, ist davon nicht so weit entfernt. Die gebürtige Hamburgerin hat tatsächlich ihr Talent für Zahlen zum Beruf gemacht – wenn auch deutlich weniger theoretisch, als der Lehrer vermutet hatte. Heute ist sie am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) Professorin für computergestützte medizinische Eingriffe mit Schwerpunkt auf chirurgischer Datenwissenschaft und Computational Biophotonics in Heidelberg. „Das Analytische liegt mir, und hier kann ich es gut anwenden. Der Skill, den ich brauche, ist das mathematisch-methodische, und die Anwendung ist in der Medizin“, erklärt sie energisch, und ihre stets zum Outfit passenden Ohrringe wippen dabei. „Schon während meines Studiums hat mich die Medizin begleitet, aber ich wollte nie Ärztin werden. Ich wollte nicht in die Patientenversorgung und wäre auch keine gute Chirurgin geworden – weil ich mir gern Zeit nehme, Lösungen zu finden, und nicht gut darin bin, schnell Entscheidungen zu fällen.“
Stattdessen promovierte sie 2009 am Karlsruher Institut für Technologie(KIT) mit Auszeichnung und arbeitete während ihrer Postdoc-Zeit am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) und am Hamlyn Centre for Robotic Surgery am Imperial College London. Sie hat als Autorin in renommierten Fachzeitschriften wie Nature Communications oder Nature Biomedical Engineering publiziert und ist Vorstandsmitglied der International Society of Computer Assisted Surgery (ISCAS) und der Medical Image Computing and Computer Assisted Interventions (MICCAI) Gesellschaft. Als eine der treibenden Kräfte sorgt sie dafür, dass diese junge Disziplin nicht nur Anerkennung, sondern auch Anwendung findet.
Zum Beispiel diesen: In einer Studie untersucht ihr Team die Möglichkeit, auf Basis von Spektralkameradaten einen Ischämie-Index –also die fehlende Durchblutung von Gewebe, zu berechnen. „Das kann man mit dem menschlichen Auge nicht wahrnehmen“, erklärt Maier-Hein. „Der aktuelle Ansatz in der Medizin ist, sich auf die klassischen Videobilder zu verlassen – aber das ist nicht sinnvoll, denn im Endeffekt sind diese Kameras an der menschlichen Wahrnehmung orientiert.“ Aus Informatiksicht mache es wenig Sinn, den Menschen zu imitieren, wenn doch mit anderen Methoden viel mehr Informationen gewonnen werden könnten.
Sie meint zum Beispiel Techniken wie Biophotonik, die sich mit der Wechselwirkung von organischem Material mit Licht und Schall befassen. Die Wissenschaftler generieren hierbei Daten, die wiederum mit künstlicher Intelligenz ausgewertet werden, um klinisch relevante Informationen zu erzeugen. „Ich habe ein intrinsisches Interesse an neuen Konzepten“, sagt Lena Maier-Hein, „und bin begeistert, wenn wir daraus Diagnostik- und Therapiemöglichkeiten ableiten.“
Der Weg dahin ist hart, muss sie immer wieder erkennen, denn die Datenlage bislang ist schlecht. Die Datenhoheit ist geschützt, aber behindert an dem Punkt die Wissenschaft. „Ich wünsche mir einen Datenspende-Ausweis“, bekräftigt sie und verweist auf ihren Mann, der als Professor für Medizinische Bildverarbeitung am DKFZ einen ganz ähnlichen Schwerpunkt hat, aber auf Bilddaten aus der Radiologie zum Beispiel zurückgreifen kann: „Er fokussiert gerade auf Netzwerke, aber da sind wir noch lange nicht. Die Chirurgie hat noch deutlich mehr Hindernisse. Uns fehlt noch die Grundlagenarbeit.“ Hinzu komme, dass ihre Disziplin in Echtzeit agiere – die älteren Daten, sofern sie vorliegen, dienen Trainingszwecken für die KI, werden aber meist gar nicht erst abgespeichert oder ausgewertet. Chirurgie ist komplex, die Variablen sind groß. Jedes OP-Team hat seine eigenen Vorlieben, mag seine eigenen Geräte. „Hier brauchen wir extrem viele Daten, um das zu durchdringen.“
Ein Ansatzpunkt ihrer Forschung ist deswegen, wie man sinnvoll Informationen über den Patienten gewinnen kann. Eng arbeitet sie deswegen mit klinischen Partnern zusammen, insbesondere vom Uniklinikum Heidelberg und dem Städtischen Klinikum Karlsruhe. Seit zwei Jahren kooperiert sie außerdem mit Teodor Grantcharov aus Canada zusammen, der die so genannte Surgical Black Box erfunden hat – ein Gerät, das unterschiedliche Daten im OP aufzeichnet: aus dem Inneren des Patienten, von Gesprächen im OP, außerdem auch Raum- und Gerätedaten. „Die perfekte Basis für die Datenanalyse“, sagt sie freudig. Die Zusammenarbeit wird allerdings gestört durch die Pandemie, ihr ganzes interdisziplinäres Team steuert sie zwischenzeitlich vom Homeoffice aus. „Zwei Professoren mit Remote-Teams, dazu zwei Kinder zwischen geschlossener Kita und Homeschooling – das war eine herausfordernde Zeit, die hoffentlich nicht nochmal wiederkommt.“ Zurückstecken musste zum Beispiel eines ihrer Hobbys, das Basketballspielen. Mit ihrer Heidelberger Mannschaft hatte sie sich in 2020 für die Finalrunde der Deutsche Meisterschaft der Ü35 qualifiziert, die leider auch wegen der Pandemie abgesagt werden musste.
Ihr beruflicher Fokus liegt derzeit darauf, die Technologien zur Anwendung zu bringen. „Wir stehen mit mehreren Herstellern in Kontakt, die großes Interesse haben, die Technologien in ihre Produkte zu integrieren.“ Für ihre Idee, Computer-navigierte minimalinvasive Operationen mit neuartigen, schonenden bildgebenden Verfahren auf der Basis von Schall und Licht zu kombinieren, hat Maier-Hein schon zwei ERC-Grants vom Europäischen Forschungsrat bekommen – ein Glücksfall für ihre Forschung. „Das Gebiet ist in den Kinderschuhen“, bekennt Lena Maier-Hein. „Und nun fängt es an, erfolgsversprechende Ansätze zu geben.“
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